Interview Mathias Forster und Christopher Schümann
Dr. Vandana Shiva Vandana Shiva ist eine indische Ökoaktivistin und Wissenschaftlerin. Ihre Ansichten und Analysen werden in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. In letzter Zeit wurde sie in den Medien mehrfach als Verschwörungstheoretikerin bezeichnet. Ihre scharfe Rhetorik wird gleichermassen geschätzt und gefürchtet. Als weltweit viel beachtete Autorin und Vortragsrednerin tritt sie dafür ein, dass die Rechte von «Mutter Erde» respektiert werden. Sie kritisiert die Industrialisierung der Landwirtschaft und interpretiert diesen Prozess als eine Kolonialisierung von Pflanzen, Tieren und Menschen wie auch der Zukunft. Sie stellt sich dem männlich geprägten Begriff von «Macht» entgegen, der ihrer Ansicht nach auf die «aggressive Überwindung, Dominanz und Beherrschung» ausgerichtet ist, und will ihn durch einen Begriff von Macht als innere Macht ersetzen, der alle Formen der Unterdrückung ablehnt und auf Selbstbestimmung
und innerer Autonomie beruht.
Vandana Shiva erhielt Ehrendoktorwürden von der Universität von Paris, University of Western Ontario, Universität Oslo, dem Connecticut College, der University of Toronto, der University of Victoria, der University of Guelph und der Universität Kalabrien. Sie ist Trägerin des alternativen Nobelpreises sowie einer ganzen Reihe anderer wichtiger Auszeichnungen. Anfang des letzten Jahres lief der Film «Vandana Shiva – Ein Leben für die Erde» in deutschsprachigen Kinos. Zur Premiere kam sie nach Europa und wir hatten Gelegenheit, sie zu treffen und ihr einige Fragen zu stellen.
Für die weitere gesellschaftliche Entwicklung scheint wichtig zu sein, dass möglichst viele Menschen anfangen selbst zu denken. Einerseits weil wir sonst nicht auf Lösungen für die vielen Probleme und Herausforderungen kommen und andererseits schützt selbständiges Denken auch davor, manipuliert und für die Interessen anderer benutzt zu werden. Vielen Menschen scheint die Erfahrung des selbständigen Denkens aber fremd zu sein. Wie siehst du das?
Selbstverständlich. Aus meiner Sicht ist das der zentrale Punkt, um den es bei der spirituellen Entwicklung geht. Zu lernen selbständig zu denken.
Welches sind aus deiner Sicht die wichtigsten Elemente, um die heutigen Systeme in einen Organismus zu verwandeln, der dem Leben dient und das Leben unterstützt?
Das Leben selbst ist ein Leben erhaltender und Leben unterstützender Organismus. Wir sind für diese Tatsache nur unter dem Einfluss des mechanistischen Weltbildes blind geworden. Der erste Schritt würde also darin liegen, die mechanistische Philosophie und die mechanistische Wissenschaft in den Bereichen zu überwinden, in die sie nicht gehören.
Denn diese mechanistische Philosophie ist ein Hindernis. Sie trennt uns ab von der Realität des Lebens und dem Verständnis für das Leben. Das zweite ist, dass wir lernen müssen sehr viel bewusster mit Technologie umzugehen. Technologie ist ein Werkzeug. Ihr habt hier dieses Phone und ihr nehmt damit unser Gespräch auf. Bis dahin ist es ein Werkzeug und es ist nützlich. In dem Moment wo es Teil eines Überwachungssystems wird, das alles hört, was wir besprechen, und die Daten dann weiterverkauft werden an jemanden, der es dann nutzen kann, um unser Verhalten zu manipulieren, hört es auf ein nützliches Werkzeug zu sein. Es wird dann ein Instrument zur totalitären Überwachung, Kontrolle und Manipulation. Technologie sollte ein nützliches Instrument bleiben, unter der Kontrolle derjenigen, die es nutzen. Technologie sollte kein Instrument der Diktatur werden, kontrolliert und beherrscht von Menschen, die unsere Souveränität untergraben und uns für ihre Zwecke benutzen wollen. Also wir müssen lernen die Technologie so an ihren Platz zu stellen, dass sie ein Mittel zur Unterstützung unseres menschlichen Lebens bleibt und nicht zu einem Instrument wird, das unser menschliches Leben beendet. Wenn uns das nicht gelingt, dann beendet die Technologie unser menschliches Leben und unsere Menschlichkeit. Das Gleiche gilt für das Geld. Ursprünglich hatte das Geld den Zweck, den Austausch zwischen Menschen zu erleichtern. Inzwischen ist es zu einem Massstab für gottgleiche Gestaltungsansprüche geworden. Wie sonst wäre es möglich, dass Bill Gates die Rolle spielen kann, die er in den letzten fünf Jahren gespielt hat. Die Tatsache, dass er so viel Raum in jeder TV-Show bekommt, belegt das. Unser Premierminister bespricht mit ihm, wie wir mit unseren Gesundheitsproblemen umgehen sollten, obwohl er ganz sicher kein Gesundheitsexperte ist. Sämtliche spirituellen Traditionen sind sich im Klaren darüber, dass viel Geld einen Menschen noch nicht zu einem gottgleichen Menschen macht, der über alle wichtigen Fragen mitentscheiden sollte. Also wir müssen lernen, Geld anders zu kontextualisieren und seine Wirkmechanismen korrigieren. Wir haben zugelassen, dass Geld die dominierende Macht unserer Zeit geworden ist. Und dieser Zustand schränkt unsere Möglichkeiten ein, Dinge zu tun, die gut für uns sind. Es scheint, wir sind dafür gemacht, uns arm zu fühlen – aus Geldmangel. Das zeigt sich auch in der Krise der Lebenshaltungskosten, in der Europa gerade steckt. Was ebenfalls für die Entwicklung wichtig ist, ist ein wachsendes Bewusstsein davon, dass wir spirituelle Wesen sind.
Die Idee, dass wir Maschinen sind, hält uns davon ab zu wissen, wer wir wirklich sind. Wir sind spirituelle Wesen, wir sind ökologische Wesen, wir sind miteinander verbundene Wesen, wir sind noch ganz andere Wesen. Wir sind nicht isoliert von anderen Menschen, wir werden erst dazu gemacht, dass wir das glauben. Es gibt eine wirklich neue Bewegung, in der es darum geht, in einer neuen Bewusstheit zu erwachen. Und wir sollten uns dieses Erwachen erlauben und aus dem heraus unsere Entscheidungen für die Zukunft treffen.
Welche Rolle kann die Kunst dabei spielen?
Wenn man Einstein liest, der mich übrigens zum Studium der Physik inspirierte, dann spricht er davon, dass wirkliche Wissenschaft zugleich Kunst ist. Denn in der Wissenschaft auf hohem Niveau geht es darum, Bilder und Muster zu erkennen. Und Bilder und Muster zu erkennen ist eine künstlerische Tätigkeit. Zeigt mir auch nur einen Wissenschaftler, dem wirkliche Durchbrüche gelungen sind und dem es nicht gelungen wäre, neue Muster zu erkennen. Also die Trennung zwischen Wissenschaft und Kunst, die sich vollzogen hat, ist auch ein Teil der mechanistischen Trennung. Und Kunst ihrem Wesen nach ist kreativ und schöpferisch. Für mich ist Wissenschaft auch kreativ und schöpferisch. Heute ist Wissenschaft hauptsächlich repetitiv geworden und dadurch schlechter und vielfach falsch, oftmals auch für Propagandazwecke benutzt. Kunst muss sich in jedem Moment und in jeder Hinsicht mit dem Ganzen befassen. Man kann nicht Kunst machen mit einer kleinen Portion und man kann auch nicht Wissenschaft auf hohem Niveau betreiben, wenn man nur auf die reduktionistischen, voneinander getrennten Fragmente blickt. Und Kunst ist auch Kommunikation. Ein Kunstwerk spricht – nicht nur aus der Perspektive des Künstlers, sondern in selbstständiger Weise auch zu der Person, die es anschaut. Kunst hat eine sehr grosse Bedeutung in unserer Zeit.
Kennst du den Künstler Joseph Beuys? Er war ein deutscher Künstler und er sprach davon, dass jeder Mensch ein Künstler ist, weil in jedem Menschen dieses kreative Potenzial schlummert. Wir haben alle in uns diese Quelle der Kreativität, die wir entdecken und entwickeln können, und damit können wir teilnehmen an der Kreation der Zukunft.
Nein, Joseph Beuys kenne ich nicht. Aber mir ist wichtig zu betonen, dass wir immer aufpassen müssen, wie wir mit einem Kunstwerk umgehen. Sehr leicht wird es zu einem Produkt und dann verliert es etwas von dem, was es sein könnte. Aber wenn wir Kunst nach den Kriterien betrachten, die wir eben angesprochen haben, dann kann sie als das weiterleben, was sie ist.
Wenn du dir vorstellst, du würdest auf dem Sterbebett liegen und schaust zurück auf dein Leben und fragst dich, was fehlt jetzt noch, was lebt noch in dir und ist bis jetzt noch nicht verwirklicht worden, was siehst du da?
Bereits jetzt ist es so, dass ich mich darum bemühe, dass alles, was durch meine Kreativität entsteht, sich ausbreiten kann, sodass auch andere Menschen an diesem kreativen Prozess teilnehmen können. Und für mich ist dieser Prozess nicht abgeschlossen, weil sich die Muster, die wir entdeckt und entwickelt haben, noch nicht so ausgebreitet haben, wie ich mir das wünsche.
Was ich gern noch erreichen möchte zwischen heute und dem Moment, wo ich gehen muss, ist das Folgende. Wir haben diejenige Sichtweise herausgefordert, die sagt, dass der Same eine Maschine ist, dass er geistiges Eigentum ist, dass er Eigentum von diesem oder jenem Unternehmen ist, indem wir sagten: Nein, der Same ist Leben, der Same ist ein Wesen und die Freiheit im Umgang mit Saatgut bedeutet, dass die Bauern das Recht haben es zu nutzen und zu vermehren, ohne abhängig von multinationalen Konzernen zu werden.
Ich würde in den nächsten Jahren gern die Möglichkeit sehen, dass an möglichst vielen Orten echte regionale wirtschaftliche Strukturen entstehen. Was wir in Indien entwickelt haben, das ist lokalisiert in Indien. Aber die Muster, die sich dabei entwickelt haben und in Erscheinung getreten sind, die lassen sich überall umsetzen. Die Menschheit steckt in einer tiefen Krise und die Frage ist, was machen wir? Wie wollen wir leben? Für den Rest meines Lebens möchte ich mich für die Co-Kreativität der 99% einsetzen.
Meinst du damit eine Art Prototyping? Meinst du damit Beispiele aufzubauen von funktionierenden regionalen Gemeinschaften?
Die Beispiele sind schon da. Jetzt geht es eher darum die Muster zu zeigen, die hinter diesen Beispielen wirksam sind, man könnte auch sagen, die Prinzipien zu verstehen und diese dann bei der Schaffung neuer regionaler Strukturen und Gemeinschaften zu berücksichtigen.
Ihr habt in Indien 150 Samenbanken gegründet. Wie habt ihr die Bäuerinnen und Bauern zu euch ins Boot geholt?
Ich stieg in das Boot, wo die Menschen waren. Ich ging von Dorf zu Dorf. Ich hatte diese Art von Arbeit nie zuvor getan und nahm Bücher aus der Bibliothek meiner Eltern mit. Ich fragte die Bäuerinnen und Bauern, ob sie dieses und jenes anbauen könnten. Die Männer sagten nein, denn sie wollten keine Kartoffeln für die regionalen Märkte anbauen. Und die Frauen sagten zu mir, komm und schau dir diese Hirse an, schau dir diese grünen Kidney-Bohnen an, schau dir diese roten Kidney-Bohnen an. Also sagte ich zu ihnen, bau das weiter an. Sie waren diejenigen, die das Wissen von der Vielfalt hatten. Die Männer waren zu beschäftigt mit ihren Ertragssorten. Es war überhaupt nicht bekannt, welch grosse Vielfalt vorhanden war. Wir hatten schliesslich fünfundsiebzig verschiedene Sorten Kidney-Bohnen.
Das war der Moment, wo wir die Navdanya-Farm gründeten mit dem Ziel, dass die Vielfalt an Sorten irgendwo sichtbar und erlebbar wird für die Community, als lebendige Samenbank.
Wie wussten dann die Bauern von diesem Ort?
Ich hatte sie bereits gefragt Sorten-Retter zu sein, das heisst bestimmte Sorten kontinuierlich anzubauen, um sie vor dem Verschwinden zu schützen. Sie waren also schon Teil von dem Netzwerk. Wir haben auf diese Art Bewusstsein geschaffen. Wir haben ihnen auch immer erklärt, dass bestimmte Konzerne ein Monopol auf Samen aufbauen wollen und sie gefragt, ob sie abhängig von einem Monopol oder frei sein wollen. Der Freiheitsaspekt hat die Bauern schliesslich überzeugt. Und nach einiger Zeit hatten diejenigen, die zunächst Zweifel hatten, ihre Erfahrungen gemacht. Sie hatten die Handelssorten der grossen Konzerne angebaut und waren verschuldet. Und sie lernten, dass sie der Verschuldung nur entgehen können, wenn sie ihr eigenes Saatgut haben.
Bei euren Samenbanken können Bauern ihr Saatgut tauschen. Wie funktioniert das genau?
Mit jeder der 150 Samenbanken ist eine Gruppe von Bäuerinnen und Bauern verbunden, die das Ganze verwaltet und die Verantwortung trägt. Sie sind in kontinuierlichem Austausch mit anderen Bauern. Wir wenden hier eine uralte Tradition an, die auf zwei wichtigen Regeln beruht. Erstens: Wenn ein Bauer dich um Saatgut fragt, lehne das niemals ab. Es ist eine Sünde, eine Anfrage eines Bauern nach Saatgut abzulehnen. Zweitens: Wenn die Bauern ein Kilo Saatgut genommen haben, geben sie eineinviertel Kilo Saatgut wieder zurück, zu einem Zeitpunkt, wo ihnen das möglich ist.
Also bekommen die Bauern das Saatgut ohne etwas zu bezahlen?
Ja.
Du siehst Saatgut als etwas Heiliges an, das nicht in gewöhnlicher Weise als Ware behandelt werden sollte.
Natürlich ist das Saatgut etwas Heiliges. Wenn die Bauern nebenher untereinander Saatgut kaufen oder verkaufen wollen, werden wir sie nicht daran hindern. Aber Navdanya als Bewegung wird sich niemals an diesem Handel beteiligen.
Liebe Vandana, wir danken dir sehr herzlich für das Gespräch und wünschen dir auch weiterhin viel Kraft, Freude, Gesundheit und Erfolg, um all das zu erreichen und weiter zu entwickeln.
Mathias Forster und Christopher Schümann