Interview Mathias Forster und Christopher Schümann

Dr. Vandana Shiva ist eine indische Ökoaktivistin und Wissenschaftlerin. Ihre Ansichten und Analysen werden in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Ihre scharfe Rhetorik wird gleichermassen geschätzt und gefürchtet. Als weltweit viel beachtete Autorin und Vortragsrednerin tritt sie dafür ein, dass die Rechte von «Mutter Erde» respektiert werden. Vandana Shiva erhielt Ehrendoktorwürden von der Universität von Paris, University of Western Ontario, Universität Oslo, dem Connecticut College, der University of Toronto, der University of Victoria, der University of Guelph und der Universität Kalabrien. Sie ist Trägerin des alternativen Nobelpreises sowie einer ganzen Reihe anderer wichtiger Auszeichnungen. In 2022 erschien ihr Film «Vandana Shiva – Ein Leben für die Erde».

  • Liebe Vandana, herzlich willkommen in der Schweiz und vielen Dank für das Gespräch! Du machst immer wieder darauf aufmerksam, dass männlich geführte Agrarmultis die Kontrolle über die Ernährung der Menschheit übernehmen wollen, indem sie Bauern von Stickstoffdünger, synthetischen Pestiziden und genmanipuliertem Saatgut abhängig machen. Tatsächlich konnten einige wenige Unternehmen eine unvorstellbare Machtkonzentration
    durchsetzen. Bayer/Monsanto, Corteva, ChemChina/ Syngenta und Limagrain kontrollieren mehr als 50 Prozent des weltweiten Saatguts. Und die grossen Saatguthersteller sind gleichzeitig führend in den Bereichen Stickstoffdünger und Pestizide. So sind gigantische Monopole entstanden, die die globale Nahrungsmittelversorgung dominieren. In einem Artikel in der «Deutschen Welle» (DW), die sich als Deutschlands internationale Informationsanbieterin und als unabhängiges Medienunternehmen versteht, wird der Einfluss dieser Konzerne auf die nationale und internationale Gesetzgebung bestätigt. In dem Beitrag wird das System der industriellen Landwirtschaft als ein System des Neokolonialismus bezeichnet. Das entspricht auch Deiner Einschätzung. Wir zitieren einige Passagen aus dem Artikel: «Grosse Hersteller von gentechnisch verändertem und biotechnologisch entwickeltem Saatgut wie Bayer und Corteva schränken die Verwendung der von ihnen verkauften Sorten streng ein. In der Regel müssen die Landwirte Verträge unterschreiben, die es ihnen verbieten, Saatgut aus den Ernten aufzubewahren, um es zu tauschen oder in der nächsten Saison wieder auszusäen …»
    Die Welthandelsorganisation verlangt von ihren Mitgliedsstaaten, und damit von so gut wie allen Nationen der Welt, dass sie über irgendeine Form von Gesetzgebung zum Schutz von Pflanzensorten verfügen. Diese Anforderung erfüllen viele Staaten, indem sie dem Internationalen Verband zum Schutz von Pflanzenzüchtungen (französisch: Union internationale pour la protection des obtentions végétales – kurz UPOV) beitreten, der die Produktion, den Verkauf und den Austausch von Saatgut beschränkt … Um die UPOV-Kriterien zu erfüllen, muss kommerzielles Saatgut genetisch einheitlich und stabil sein. Die Sorten, die von Landwirten entwickelt und über Generationen weitergegeben wurden, sind aber genetisch vielfältig und entwickeln sich ständig weiter. Da sie damit die UPOV-Kriterien nicht erfüllen können, haben Landwirte in den Vertragsstaaten der UPOV kein geistiges Eigentumsrecht an selbst- gezüchteten Pflanzensorten – mehr noch: In vielen Ländern können sie ihre Sorten gar nicht erst als Saatgut zertifizieren lassen … Es gibt keine rechtliche Verpflichtung der UPOV beizutreten. Aber Länder wie die USA, Kanada, die Schweiz, Japan sowie die Mitgliedstaaten der Europäischen Union setzen Länder des globalen Südens wie Simbabwe oder Indien mit bilateralen und regionalen Handelsabkommen unter Druck, um einen UPOV-Beitritt zu bewirken … Kritiker monieren, dass die Einführung einheitlicher Regeln auf globaler Ebene letztlich bedeutet, die in Europa und den USA dominierende industrielle Landwirtschaft auch solchen Regionen der Welt aufzuzwingen, wo Lebensmittel noch grossenteils von kleineren, nachhaltigeren Betrieben produziert werden.
    «Wir sehen das als einen Neokolonialismus, der unsere Lebensgrundlagen und unsere Umwelt zerstört», sagt Mariam Mayet, Direktorin des African Center for Biodiversity in Südafrika»
    Die Abhängigkeit grosser Teile der Menschheit von einigen wenigen Unternehmen lässt sich nicht leugnen! Wodurch wurde eine solche Entwicklung aus Deiner Sicht möglich?

  • Die meisten Menschen wissen nicht, dass die wenigen Unternehmen, die heute versuchen die Landwirtschaft durch Gifte zu kontrollieren, die gleichen Unternehmen sind, die in Nazideutschland Giftstoffe produzierten. Die Gruppe deutscher Unternehmen war organisiert als IG-Farben. Aber sie hatten US-Partner, sogar während des Krieges. Während Hitlers Armee gegen die Alliierten kämpfte, arbeitete Standard Oil zusammen mit IG-Farben. Die wichtigsten Rohstoffe der Pharmazie und der Landwirtschaft waren petrochemische Produkte, die Mr. Rockefeller lieferte. Und weil er auch der finanzielle Gigant seiner Zeit war, lieferte er auch das notwendige Geld. Damals waren diese Unternehmen sehr mächtig. Zwischendurch scheint es, waren sie weniger mächtig. Aber sie entwickelten die Technologien zur Produktion von künstlichem Stickstoffdünger. Andere von ihnen entwickelte Technologien ermöglichten die Produktion von chemischen Kampfstoffen, wieder andere Technologien entwickelten die Pestizide weiter. Nach den Kriegen machten sie sich an die Arbeit und ver- wandelten die Landwirtschaft in eine Aktivität, die diese chemischen Produkte benötigt. Das Projekt erhielt den Namen «Green Revolution». Schon in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts, also kurz nach dem 2. Weltkrieg, waren die Rockefeller Foundation, die Weltbank und die US-Regierung in Indien, um den Einsatz von künstlichem Stickstoffdünger und anderer Chemikalien in der indischen Landwirtschaft zu «pushen». Es ist diesen Konzernen tatsächlich gelungen, einen grossen Einfluss auf Regierungen auszuüben und somit das internationale Recht zu kapern, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Ihre Chemikalien haben gleichzeitig eine zweifache Wirkung. Sie zerstören, was existiert. Also Insektizide zerstören Insekten, sodass wir einen Rückgang der Insektenvielfalt haben. Herbizide zerstören Pflanzen, sodass wir einen Rückgang der Pflanzenvielfalt haben, und Fungizide zerstören Pilze im Boden. Was diese Chemikalien aber gleichzeitig tun, ist, dass sie andere Formen der Agrarkultur zerstören. Sie zerstören andere Methoden der Wissensvermittlung, andere Methoden der Wissenschaft und andere Methoden der Landwirtschaft. Und sie kontrollieren die landwirtschaftlichen Ausbildungen. Mit der Globalisierung kam die Deregulierung. Das System der Konkurrenz, das die Entstehung von Monopolen eigentlich verhindern soll, ist in Wahrheit ein System, das die Entstehung von Monopolen ermöglicht hat. Das Design der Globalisierung ist ein System der Deregulierung. Vor der Globalisierung waren die nationale Souveränität und die nationalen Demokratien wesentlich effektiver.

  • Und wie kommen wir aus dieser Abhängigkeit wieder heraus?

  • Als ich die «Grüne Revolution» studierte und das Buch «The Violence Of The Green Revolution» schrieb, veröffentlichten wir darin eine Erklärung, in der die Bauern sagten: Wenn wir nicht über das Saatgut entscheiden können, das wir anbauen, wenn wir nicht entscheiden können, wie wir es anbauen, weil sie mit dem Gebrauch von Chemikalien angebaut werden müssen, wenn wir nicht darüber entscheiden können, wann Wasser auf unsere Felder geleitet wird, wenn wir nicht entscheiden können, zu welchem Preis wir unsere Produkte verkaufen, dann leben wir in einem System der Sklaverei. Und Landwirtschaft unter industriellen Bedingungen, d.h. in Abhängigkeit von diesen Chemikalien und Konzernen, ist tatsächlich ein System der Sklaverei.
    Und natürlich ist ein System mit patentiertem genmanipuliertem Saatgut (GMO) Saatgut-Sklaverei. Es ist dafür gemacht, dies zu sein, indem es maximale Abhängigkeiten schafft. Es ist ein sehr grobes und primitives System von Sklaverei. Aber diese Konzerne verstecken sich gern hinter Technologien. Die moderne Form des Kolonialismus kleidet sich gern in die Kleider der technologischen Notwendigkeit.
    Es wird dann gesagt, wir müssen diesen Weg gehen, um die wachsende Menschheit ernähren zu können. Aber diese Behauptungen sind in wissenschaftlicher Hinsicht falsch. Weder die «grüne Revolution», noch das genmanipulierte Saatgut erhöhen langfristig den Ernteertrag. Sie erhöhen den Einsatz von Chemikalien und damit den Gewinn dieser Konzerne, aber nicht den Ernteertrag. Das Problem ist, dass etwas so existenziell Wichtiges wie unsere Nahrung und unsere Gesundheit in den Händen dieser wenigen Konzerne liegt. Die Schlachten, welche die Pestizid- und GMO-Industrie führt, finden in den Medien statt. Der Diskurs in den Medien wird oftmals nicht bestimmt durch verschiedene Forschungsinstitute, von denen eines eine Steigerung des Ernteertrages feststellt und das andere nicht und dann ein wissenschaftlicher Diskurs in der Öffentlichkeit stattfindet. Das Wissen darüber basiert nicht auf Wissenschaft, sondern auf Propaganda.
    Saatgut und Nahrung sind die Bereiche, in denen ein neuer totalitärer Kolonialismus etabliert wurde. Also sind freies und konzernunabhängiges Saatgut und die freie, konzernunabhängige Lebensmittelproduktion die Orte, die zu einer Befreiung aus dieser Abhängigkeit führen können.

  • Wie kann die Kontrolle der Bauern über das Saat- gut wiedererlangt werden?

  • Indem die Bauern einen Teil ihres nicht kontaminierten Saatgutes behalten, um es gegen anderes Saatgut eintauschen zu können. Dafür können regionale Saatgutbanken gegründet werden. Das ist das, was wir in Indien durch die Organisation Navdanya gemacht haben. Wir haben 150 regionale Saatgutbanken gegründet und nicht ein einziger Bauer, der Zugang hat zu seinem eigenen Saatgut, ist jemals in die Schuldenfalle geraten und hat daraufhin Selbstmord begangen.
    Wir hatten 400.000 Selbstmorde von Bauern, verursacht durch Überschuldung im Zusammenhang mit der Globalisierung. Die meisten dieser Selbstmorde traten in Regionen auf, in denen genmanipulierte Baumwolle angebaut wird, auf die Monsanto ein Monopol hält. Mir wird oftmals unterstellt, dass ich mir den Zusammenhang zwischen steigenden Selbstmordraten der Bauern und der Abhängigkeit von genmanipuliertem Saatgut ausgedacht habe. Es gibt aber mehrere unabhängige wissenschaftliche Studien, die diesen Zusammenhang bestätigen.

  • Wie werden wir unabhängig und frei von künstlichem Stickstoffdünger und synthetischen Pestiziden?

  • Das erreichen wir durch den Biolandbau, durch bio-dynamischen oder organischen Landbau. Die Bauern sollten ihr bevorzugtes System frei wählen können, so wie man auch die Sprache wählen kann, die man sprechen möchte. Und die Gesellschaft sollte das in ihrem eigenen Interesse unterstützen. Definitiv können wir Lebensmittel ohne synthetischen Stickstoffdünger anbauen, definitiv können wir Lebensmittel ohne synthetische Pestizide anbauen, definitiv können wir das Unkraut ohne Herbizide kontrollieren. Die Praxiserfahrungen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber, wie das geht, sind da. Wir sollten sie verbreiten und miteinander teilen.

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