Interview Mathias Forster und Christopher Schümann

Dr. Vandana Shiva ist eine indische Ökoaktivistin und Wissenschaftlerin. Ihre Ansichten und Analysen werden in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Ihre scharfe Rhetorik wird gleichermassen geschätzt und gefürchtet. Als weltweit viel beachtete Autorin und Vortragsrednerin tritt sie dafür ein, dass die Rechte von «Mutter Erde» respektiert werden. Vandana Shiva erhielt Ehrendoktorwürden von der Universität von Paris, University of Western Ontario, Universität Oslo, dem Connecticut College, der University of Toronto, der University of Victoria, der University of Guelph und der Universität Kalabrien. Sie ist Trägerin des alternativen Nobelpreises sowie einer ganzen Reihe anderer wichtiger Auszeichnungen. In 2022 erschien ihr Film «Vandana Shiva – Ein Leben für die Erde».

  • Den heutigen Verhältnissen stellst Du einen weiblich geprägten Begriff von Macht als innere Macht entgegen, der alle Formen der Unterdrückung ablehnt, auf Ermutigung ausgerichtet ist und nicht um des eigenen Vorteils willen die Vernichtung des Anderen in Kauf nimmt. Das ist ein sehr menschenfreundlicher und auf Selbstbestimmung sich gründender Ansatz.Wie reagieren Männer darauf? Und meinst Du männlich/weiblich eher als Qualitäten, die sowohl in Männern als auch Frauen vorhanden sind?

  • Die Tatsache, dass die Menschheit überhaupt noch existiert, liegt an der Power von Frauen und an ihrem ökonomischen Sachverstand. Ihre Kraft und Fürsorge hält die Menschheit am Leben. Sie kümmern sich um das, was wirklich wichtig ist. Aber es wird nicht so bewertet, als wäre es wirklich wichtig. Während der Entwicklung arbeitsteiliger kapitalistischer Gesellschaften verliessen die Männer die Bauernhöfe und begannen in Plantagen, Minen oder Fabriken zu arbeiten. Das ist Teil der Geschichte vom vorherrschenden System in vielen Ländern. Es sind Strukturen entstanden, in denen wenige Männer alles kontrollieren. Und was diese wenigen Männer als erstes tun, ist für gewöhnlich, dass sie die anderen Männer als Sklaven benutzen. Die Frauen bleiben dann zurück und sie tun die Arbeit, auf die es wirklich ankommt. Sie kümmern sich um das Wasser und die Lebensmittel, sie kümmern sich um die Kinder und die alten Menschen. Das liegt nicht in den Genen von Männern oder Frauen, dass das so ist, sondern es ist Teil der historischen Tragik. Die Strukturen basieren auf dem Prinzip von «Teile und herrsche» im Kapitalismus und im Kolonialismus. Wenn wir uns klar machen, dass die Arbeitsteilung als Herrschaftsinstrument missbraucht wird, dann kann daraus eine neue Basis für menschliche Gemeinschaftsbildung zwischen Männern und Frauen hervorgehen. Frauen müssen in vielen Ländern kämpfen, um zu zeigen: wir produzieren die Lebensmittel, wir kümmern uns um das Wasser, wir verfügen über das notwendige Wissen. Das führt zu einem Paradigmenwechsel, denn das Überleben der Menschen erfordert das. Männer sind aber ebenfalls oft Opfer des Systems. Ihnen geht es nicht besser als den Frauen. Der Kapitalismus macht sie meistens nicht zu privilegierten Menschen. Sie werden oftmals auch wie Wegwerfmenschen behandelt.
    Und hier liegt ein Teil der Erklärung für die zunehmende Gewalt innerhalb der Gesellschaft. Indem wir die Geschichte verstehen als eine Geschichte, in der die Spaltung der Gesellschaft als Herrschaftsinstrument benutzt wird, können wir die Elemente für eine neue gemeinsame Menschlichkeit finden. Zu wissen, dass Frauen und Männer biologisch gesehen unterschiedlich sind, bedeutet ja nicht, dass sie als Menschen ungleich sind. Der Feminismus sagt im Wesentlichen: Ja, ich bin eine Frau, aber ich bin nicht weniger als ein Mann. Ein wichtiges Element zur Bildung einer gemeinsamen Menschlichkeit wird sein, wenn wir falsche Überlegenheitsparadigmen überwinden: Die Überlegenheit der Menschen über die Natur, der Männer gegenüber den Frauen, der Reichen gegenüber den einfachen Arbeitern. Alledem liegt ein männlich geprägtes Dominanz- und Machtstreben zugrunde, das wir überwinden sollten.

  • Was Du als Zukunft der menschlichen Gesellschaft beschreibst, ist zum Teil ja schon Bestandteil der Gesetzgebung in vielen Ländern. Die Idee der Demokratie zum Beispiel, in der jeder eine Stimme hat, ganz gleich ob Mann oder Frau, ist inzwischen weit verbreitet. Auch sonst scheint es, dass in modernen zivilisierten Gesellschaften vieles berücksichtigt wird, was Du als weibliche Qualitäten beschreibst: sich mehr umeinander kümmern zum Beispiel oder sich gegenseitig zu respektieren. Wir fragen uns, ob man das Phänomen des ausufernden Dominanz- und Machtstrebens und der damit verbundenen Probleme ausreichend erklären kann, wenn man Männliches und Weibliches gegenüberstellt. Ist es nicht auch so, dass in diesem Macht- und Dominanzstreben etwas sehr Altes liegt, was nicht mehr so recht in unsere Zeit passt? Du kritisierst oft männlich geführte Industrieunternehmen. Du sagst, diese Menschen wollen über Monopole an Saatgut, Stickstoffdünger, Pestizide usw. die ganze Menschheit und das Leben auf der Erde beherrschen und darin würde männliches Dominanzstreben zum Ausdruck kommen. Aber vielleicht drückt sich darin auch ein verbissenes Festhalten an etwas sehr Altem aus und das Versäumnis, sich zu einem modernen, zivilisierten Menschen entwickeln zu wollen. Vielleicht auch, weil das Festhalten am Alten profitabler ist. Was meinst Du?

  • Ich verstehe, was Ihr meint. Und einerseits habt Ihr recht. Diese Menschen leben, als wären sie feudale Könige, auch heute noch, mit der gleichen Einstellung und Haltung wie damals. Trotzdem sind die nationalen und internationalen Regeln und Gesetze bisher noch unvollständig. Zum Beispiel die Konvention zum Schutz der Menschenrechte. Ihre Wirkung ist sehr begrenzt. Das liegt auch daran, dass der Schwerpunkt auf den zivilen Rechten liegt. Technologische Rechte wurden aussen vor gelassen. Das wurde damals nicht in Erwägung gezogen. Das war auch eine andere Zeit. Es war die Zeit kurz nach Hitlerdeutschland, als man in den Abgrund der absoluten Unmenschlichkeit geblickt hatte. Das wollte man korrigieren. Ich habe einmal ein kleines Buch veröffentlicht, in dem ich die Regeln der WTO auf der einen Seite und die Menschenrechte auf der anderen Seite darstellte. Man kann daran sehr gut sehen, wie die Regeln der WTO die Menschenrechte aushebeln, weil sie den Profit über das Leben stellen. Darum haben wir an einer Erklärung gearbeitet, welche die Rechte von Mutter Erde berücksichtigt. Denn die Rechte von Mutter Erde als lebendiger Organismus werden aussen vor gelassen. Es war Evo Morales als Präsident von Bolivien, der ein grosses Gipfeltreffen organisierte nach den enttäuschenden Erfahrungen des Klimagipfels in Kopenhagen. Aus diesem Treffen ging eine Erklärung der Rechte von Mutter Erde hervor. Also die Erklärung der allgemeinen Menschenrechte war nur ein Anfang, eine gute Idee, die allerdings gerade massiv angegriffen wird, von einer sehr kleinen Gruppe sehr mächtiger Menschen.
    In dem Buch: «One Earth, One Humanity vs. The 1%» gehe ich näher auf das Problem ein. Diese Leute sind wie die Kolumbusse der heutigen Zeit. Sie sind immer auf der Suche nach neuen Kolonien. Ein Beispiel: Eine grosse Kampagne der UN entstand im Zusammenhang mit dem Babynahrungbetrug von Nestlé, einem Schweizer Unternehmen. Nestlé wurde vorgeworfen, durch irreführende Werbung Mütter dazu zu veranlassen, ihre Babys, anstatt sie zu stillen, mit künstlicher Nahrung zu versorgen. Der Erfolg der Kampagne bestand darin, dass 1981 der Internationale Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten durch die Weltgesundheitsversammlung (WHO) veröffentlicht wurde. Er verpflichtet die Anbieter von Babynahrung zur Unterlassung von irreführender Werbung und weiteren Marketing-Massnahmen. Denn die Mütter dachten damals, dass die Produkte von Nestlé so gut wären wie ihre Muttermilch, was nicht stimmte. Kinder starben. Mr. Gates finanziert jetzt die Entwicklung einer laborbasierten Muttermilch als Klimaschutzlösung. Für mich ist die Frage der Muttermilch ein Frauenthema. Und für mich ist er ein Patriarch, der eine Menge Geld in Projekte investiert, die in erster Linie Frauen betreffen und über die Frauen entscheiden sollten. Und was er versucht, ist, die Frauen zu dominieren und in seine Projekte als Objekte einzubinden. Es geht ihm darum, in einem neuen Bereich zu dominieren.

  • Der Transhumanismus als Weltanschauungsrichtung ist derzeit eine starke Kraft, die versucht den Menschen ihre Perspektive von Entwicklung aufzuzwingen. Man will hier durch Implantate, Gentechnik, Nanotechnologie, insgesamt durch Technik den Menschen optimieren. Wenn man ein geistiges Welt- und Menschenbild hat, erscheint ein solches Ziel absurd, weil wir als Menschen auch ohne Implantate noch ein unendliches Entwicklungspotenzial haben, einfach dadurch, dass wir unsere Fähigkeiten durch Kreativität und Übung steigern können. Siehst Du eine mögliche Brücke zwischen der extrem materialistischen Weltanschauung, die der Transhumanismus ja ist, und einer spirituellen Weltauffassung, und wenn ja, wo?

  • Ich glaube nicht, dass man immer und überall nach Brücken suchen muss.

  • Wir meinen jetzt für die Menschen, die in transhumanistischen Konzepten denken und das für eine gute Sache halten.

  • Das ist die grosse Herausforderung. Menschen, die heute in transhumanistischen Kategorien denken, folgen dem kolonialistischen Pfad. Sie glauben, dass eine immer grössere Kontrolle der wenigen Herrschenden über immer grössere Bereiche des Lebens der Mehrheit das Leben der Mehrheit verbessert. Das ist kolonialer Irrglaube.
    Der Glaube, dass die Herrschaft und Kontrolle über immer mehr Lebensbereiche durch eine sehr kleine Gruppe von Kolonialherren mit Hilfe technischer Lösungen das Potenzial der Vielen entfaltet und ihnen dadurch Fortschritt ermöglicht, ist ein Irrglaube. Lebendige Systeme und spirituelle Wesen definieren ganz bewusst die nächsten Schritte ihrer eigenen Entwicklung selbst. Jeder Kontrollmechanismus, der die individuelle Autonomie unterwandert, gibt nicht nur die Kontrolle über unser Leben an jemand anderen ab, sondern er lässt unsere Menschlichkeit schrumpfen. Er schränkt unsere Fähigkeit ein, zu wählen.
    Das verstehen auch immer mehr Menschen. Zum Beispiel der junge Tennisspieler Novak Djokovic, der sich nicht gegen Covid impfen lassen wollte und der selbst als er nicht mehr an Turnieren teilnehmen durfte die Ansicht vertrat, dass die Integrität seines Körpers ihm mehr wert ist als Matchgewinne oder Titel. Wir sind autonome Wesen, auf vielfältige Weise mit anderen vernetzt und verbunden. Die Brücke muss sein: Was immer Deine Autonomie und Deine Integrität fördert, ist das, was Du wählen solltest, und nicht das, was andere wählen und Dir aufzwingen wollen. Es gab keine Zeit, in der Kolonialherren sagten, dass sie kolonialisieren. Sie sagten immer, dass sie zivilisieren, weil das besser klingt. Die Weltbank sagte, sie wollte helfen, die Kolonialmächte sagten, dass sie uns die Zivilisation bringen. Sie brachten uns die erbarmungslose Plünderung unserer Ressourcen und sehr viel Leid. Was folgt aus den Erfahrungen aus der Vergangenheit? Worum geht es im Kern? Definiere Dein Potenzial und Deine Entwicklung selbst, gemäss Deiner eigenen Bedingungen und Massstäbe.

  • Wir versuchen diese Phänomene zu verstehen und sind der Ansicht, dass heute sehr viele Menschen, also nicht nur die von Dir so genannten wenigen Kolonialherren, eine Pflanze, ein Tier, einen Menschen nicht mehr von einem Gegenstand unterscheiden können. Sie sehen die Unterschiede zwischen Gegenständen, Pflanzen, Tieren und Menschen nicht. Es existieren in diesem Bewusstseinszustand, der dieser Weltanschauung zugrunde liegt, im Grunde nur Gegenstände. Wir meinen, dass hier etwas Krankhaftes vorliegt, was in vielen Bereichen des Lebens zwangsläufig krankhafte und furchtbare Zustände hervorrufen muss – in der Wirtschaft, in der Landwirtschaft, in der Politik, im sozialen Leben – also überall dort, wo wir es mit Lebendigem zu tun haben, wirkt sich diese reduktionistische Weltsicht katastrophal aus. Wie siehst Du das?

  • Das ist die Wirksamkeit der mechanistischen Weltsicht und Philosophie. Hier kommen die Descartes und Bacons ins Spiel. Die Idee, dass die Welt nur aus Objekten und Maschinen besteht, wurde zum herrschenden Dogma der Wissenschaft. Bacon ist einer der Väter der modernen Wissenschaft. Das hat zur Vergegenständlichung lebender Systeme und auch des Menschen geführt. Lebendige Systeme können demnach verstümmelt, benutzt, modifiziert, besessen und dann weggeworfen werden. Solche Leute sitzen im Silicon Valley und träumen vom Transhumanismus. In dieser Welt gibt es kein Leben, nur Wachstum. Die Welt ist eine Maschine. Diese Leute leben die Illusion von der Welt und dem Menschen als einer Maschine und sie glauben, wir werden verbessert, wenn wir danach streben, maschinenartig zu werden. Sie glauben, dass wir uns weiter entwickeln, indem wir in die Maschine hinein verschwinden. Das ist eine grosse Illusion. Denn diese Weltanschauung und die grenzenlose Liebe für die Maschine hat uns in die gegenwärtige Krise geführt. Die Krise, in der wir leben, ist das Resultat der mechanistischen Weltanschauung. Und in diese Richtung weiter zu gehen würde nicht nur die Krise verschlimmern, sondern uns auch inkompetenter machen, sie zu überwinden.

  • Werden wir uns in Zukunft zu erbarmungslosen seltsamen Kreaturen entwickeln, die keine Empathie mehr kennen und auch sonst keine menschlichen Eigenschaften mehr haben? Wir würden alles verlieren, was den Menschen in seinem tieferen Wesen ausmacht. Aber auch alles, was zivilisierte menschliche Kultur ausmacht. Glaubst Du, dass das möglich ist?

  • Als die Diskussionen um GMO in den 90er Jahren innerhalb der UN stattfanden, sagte ein Repräsentant von Monsanto bei einem Treffen, bei dem ich anwesend war: «Wir können nicht erlauben, dass Ethik und andere irrelevante Erwägungen in die Diskussion einfliessen.» Also sehr klar und deutlich wird ausgesprochen, dass Ethik, emotionale Intelligenz, Mitgefühl irrelevante Erwägungen sind. Das ist nicht verwunderlich, denn in einer Maschinenwelt existieren diese Qualitäten nicht. Jetzt glauben wir, dass KI (künstliche Intelligenz) alle Probleme für uns lösen wird. Gleichzeitig stellen wir fest, wie begrenzt KI ist, und dass dadurch nur eine Fraktion unseres Denkens davon betroffen ist. Wir wachen auch für die Tatsache auf, von der eingeborene Menschen immer wussten, dass die Intelligenz viel umfassender ist. Die Wissenschaft stellt jetzt fest, dass Bakterien intelligent sind, dass Bienen intelligent sind, dass Pflanzen intelligent sind. Und gerade in unserer Zeit, in der diese Dinge immer deutlicher werden, gibt es sehr starke Kräfte, die dieses Aufwachen zerstören und verhindern wollen.

  • Wir haben manchmal den Eindruck, dass die Maschinenmenschen, die Cyborgs schon da sind, auch ohne Implantate, ohne Nanotechnologie und ohne GMO. Diese Menschen lassen sich diktieren, wie sie zu denken haben, was sie zu sagen haben und was sie zu tun haben. Wie siehst du das?

  • Du musst nur aufhören Dein Hirn und Deinen gesunden Menschenverstand zu gebrauchen. Das reicht schon. Wenn Du aufhörst Deine kreativen Fähigkeiten und Dein Bewusstsein zu gebrauchen, dann wird der Einfluss anderer Menschen entscheiden, wie Du funktionierst als Maschine. All diese Politiker, die den Instruktionen multinationaler Konzerne gehorchen, inklusive solcher, die unsere Zukunft betreffen, sie denken nicht selbst und sie haben sich selbst in gewisser Weise aufgegeben.

Teil 3/3 folg im Juni 2024

Teilen Sie diesen Beitrag mit Ihrem Netzwerk!