Johannes Stüttgen im Gespräch mit Mathias Forster | Fotos Anna Krygier

Johannes Stüttgen ist ein deutscher Künstler, Vortragsredner und Buchautor. Er studierte zunächst Theologie in Münster bei Joseph Ratzinger und dann Kunst an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Joseph Beuys, der ihn 1971 zum Meisterschüler ernannte. Stüttgen orientiert sich in seinem Schaffen an dem erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys. Er war als Gastprofessor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg für den erweiterten Kunstbegriff tätig und wurde von der Brookes University in Oxford für seine Arbeit an der sozialen Plastik ausgezeichnet. Er versteht gesellschaftliche Entwicklung als kreativen Prozess und war und ist in verschiedenen Initiativen engagiert, zum Beispiel beim «Omnibus für direkte Demokratie». Stüttgen lebt und arbeitet in Düsseldorf.

Johannes, ich darf sagen und dafür bin ich Dir sehr dankbar, ich habe durch Dich begriffen, dass ich ein Künstler bin. Ich habe verstanden, dass das, was ich arbeite, wie ich arbeite und auch wie wir in der Bio-Stiftung arbeiten, Kunst ist. Ich kannte vorher schon die Aussage von Joseph Beuys, dass jeder Mensch ein Künstler ist, aber durch Dich ist der erweiterte Kunstbegriff von Beuys in mir zum Leben erwacht. Du hast ja auch bei Beuys studiert. Könntest Du unseren Lesern erläutern und näher bringen, was dieser erweiterte Kunstbegriff ist?

Erweitert setzt voraus, dass vorher schon etwas vorhanden ist, das erweitert wird. Das heisst also, es gab schon etwas, was wirksam ist. Der Kunstbegriff ist eigentlich etwas, was von Anbeginn an wirksam gewesen ist, wenn auch in einem früheren Stadium. Und dieser Kunstbegriff hat sich dann im Laufe der jüngeren Zeit herauskristallisiert als Kunstbegriff, also ausdrücklich. Ich will damit sagen, dass der erweiterte Kunstbegriff eigentlich ein drittes Stadium des Kunstbegriffs ist.

Verstehe, aber welches waren denn die ersten beiden Stadien des Kunstbegriffs?

Das zweite Stadium ist eigentlich das, wie der Kunstbegriff heute allgemein geläufig ist als eine Art Spezialkreativität von besonders begabten oder berufenen Menschen in allen möglichen Feldern. Das wäre das, wie es sich im Mittelalter herauskristallisiert hat. Im Mittelalter stand die Kunst im Dienste einer höheren Formation, der Religion. Ich gehe aber noch viel weiter zurück und sage – das ist jetzt nicht Beuys, sondern das ist meine Sache – das erste Stadium ist ganz generell die Menschwerdung und die bezeichne ich als den wirksamen Begriff der Menschheit, als Kunst, als Kunstwerk.

Die Menschwerdung als Kunstwerk?

Ja, das klingt auch an, wenn im Alten Testament die Gottheit als Künstler auftritt: «Gott formte den Menschen aus Lehm …» Das sind alte Bilder, die aber auch real sind. Die sind so real, dass man heute sagen könnte, Du wirst deswegen geboren, weil Du Künstler bist, weil Du einen künstlerischen Auftrag zu erfüllen hast, und zwar hier auf Erden. Einen Auftrag, den Du nur hier auf der Erde erfüllen kannst, mitsamt den damit verbundenen Widerständen, mitsamt den damit verbundenen Vergessensvorgängen. Denn es gehört mit zu Deiner künstlerischen Aufgabe, diese Aufgabe herauszufinden. Das macht die Sache ganz besonders brisant, weil es ein Akt der Freiheit ist und damit gleichzeitig das Wesen der Kunst beschrieben ist. Die beiden Begriffe Kunst und Freiheit gehören zusammen und zwar in einer bemerkenswerten Weise. Die bringen sich gegenseitig hervor, was nicht so einfach zu denken ist. Dafür braucht man schon Begriffe, die über das alltägliche Denken hinausreichen: Wie können sich Begriffe gegenseitig hervorbringen? Das wäre mal eine Frage, aber die lassen wir jetzt so stehen. Der Kunstbegriff ist jedenfalls einer, der etwas zu tun hat mit einem Auftrag. Diesen Auftrag zu bestimmen gehört bereits schon zu der Aufgabe. Aber das Merkwürdige ist, es liegt schon etwas vor, sonst könnte es kein Auf trag sein. Der Auftraggeber hat damit etwas im Sinn, nämlich den Menschen hat er im Sinn. Und gleichzeitig ist der Mensch derjenige, der den Auftrag nicht nur erfüllen, sondern auch herausfinden muss. Das macht die Sache sehr geheimnisvoll und damit komme ich auf einen Begriff, der in der Kunst sehr wichtig ist, den Begriff des Geheimnisses, des Verborgenen, des Wirksamen im Verdeckten, des Aufgehen-lassen-Sollens und so weiter und so fort.

Und das wäre sozusagen der erste Kunstbegriff?

Das wäre der Kunstbegriff schlechthin. Und der ist eben in verschiedenen Stadien wirksam. Spätestens natürlich durch unsere Erdenwirklichkeit, vermutlich auch vorher schon. Nur waren da eben nicht die Menschen die Künstler, sondern da waren es die geistigen Schöpfer, die geistigen Gestalter, die damals schon in Form der Arbeitsteiligkeit einen Kunstbegriff, der heute eigentlich erst aktuell wird, vorweggenommen haben. Und damit sind wir an einem sehr wichtigen Punkt, nämlich bei der Frage der Entwicklung und der Frage des Zeitbegriffs. Denn eigentlich, so könnte man sagen, ist der künstlerische Vorgang ein Vorgang, der aus der Zukunft kommt, der uns zwingt, den normalen Zeitbegriff, den wir sozusagen, aus der Vergangenheit herkommend bis zum heutigen Tag denkend, umkehren müssen in dem Sinne, dass wir sagen: Der heutige Tag ist die Empfangsstation für Zukünftiges. Und zwar ganz real, nicht nur in dem Sinne, dass man irgendwelche Vorstellungen von der Zukunft hätte, die ja nichts Anderes wären als Projektionen. Hier ist die Rede von einer zukünftigen Substanzforderung. Und der Begriff der Substanz ist nicht der materialistische Begriff in dem Sinne, Substanz ist gleich Materie, sondern Substanz ergibt sich durch den Durchgang durch die Materie. Also Du musst Dich durch die Materie, durch das irdische Dasein hindurcharbeiten, mit allen Hindernissen und Widerständen, und Substanz ist dann das Ergebnis dieses Vorgangs. Und das wäre das Kunstwerk. Aber das Kunstwerk seinerseits bestimmt erst, was überhaupt Kunst ist. Also der Begriff der Kunst wird sozusagen von der Zukunft her bestimmt und er ist ein Auftrag, mit dessen Hilfe Du zur Erde kommst. Du merkst, Du hast es hier mit lauter Widersprüchen zu tun und die sind sehr wichtig. Das Denken ist da ein sehr wesentlicher Bestandteil, aber nicht in der Form des blossen Rationalen. Aber, dieses Rationale gehört eben mit zu den Bedingungen des Irdischen. Also Du musst da durch, Du darfst es nicht einfach ausschalten. Daraus ergeben sich dann eine Menge Fragen.

Aber, wenn ich das richtig verstanden habe, das was man die Götter nennt oder nannte, die Schöpfergötter, waren künstlerisch tätig, künstlerisch waren die aktiv, haben etwas geschaffen, was ihrer Substanz verwandt ist, haben die Fähigkeit des künstlerisch tätig sein Könnens in ihr Kunstwerk hineingelegt, sodass wir eigentlich auf der einen Seite Kunstwerk sind, das mehr und mehr erkennen soll und auch kann, dass es nicht nur Kunstwerk ist, sondern dass in ihm die Potenzialität schlummert, das Gewordene, das Geschöpfte, das man selber ist, zu ergreifen und umzugestalten und zum Kunstwerk zu machen, und darin und dadurch selber zum Künstler zu werden, um ein Neues zu schaffen. Und das Neue sind wir selbst.

Du siehst also, ich brauche eigentlich gar nichts mehr zu sagen. Das ist wunderbar, Du hast es ja beschrieben. Aus Deiner Beschreibung kann man nun sehr schön mal kurz die Idee der Aktionskunst von Joseph Beuys erläutern. Denn die Aktionskunst von Beuys ist ja unter allen Kunstvorgängen des 20. Jahrhunderts mit Abstand die flüchtigste. Sie ist eigentlich nichts anderes gewesen als Aktion, aus der sich dann die Frage ergibt, wo ist sie jetzt?

Wenn man Glück hatte, hatte man einen Film am Schluss, oder man hatte eine Fettecke, aber eigentlich ging es um den Prozess.

Ja, genau. Und eigentlich alles, was jetzt noch irdisch übrig geblieben ist im Sinne von sichtbaren Dokumenten und Zeugnissen, die sind ja nun alle sehr vorläufig, auch vergänglich, viel vergänglicher als der Begriff der Aktion. Die Fettecken sind ein gutes Beispiel, weil sie auch Aktionsträger sind. Sie haben unheimlich viel ausgelöst. Aber heute gibt es so gut wie keine Fettecken mehr, Beuys hat aus diesen Aktionen Elemente herausgenommen und hat sie dann für sich selbst weiter agieren lassen. Entscheidend ist eben, und darauf wollte ich hinaus, die Aktionskunst ist eben genau die Kunst, die Du auch eben beschrieben hast, nämlich das Kunstwerk, in dem der Künstler selbst Bestandteil ist. Also die Frage, wer bringt eigentlich was hervor, ist in der Aktionskunst eine Gegenseitigkeit. Das Kunstwerk bringt den Künstler hervor und der wiederum das Kunstwerk. Und da hat man ein wunderbares Beispiel dafür, dass eigentlich alles auf den Menschen zuläuft. Denn der Mensch als Kunstwerk ist eben auch Künstler.

Aber der Mensch nicht als das, was er bisher geworden ist, sondern als das, was er noch potenziell werden kann, wenn er dieses Künstlersein in Freiheit ergreift und diese Kräfte aktiviert.

Richtig. Was übrigens seit Anbeginn der Fall war. Nur, es ist erst neuerdings bewusst, aber wirksam war es durchaus schon davor. Der erweiterte Kunstbegriff ist die Beschreibung einer Wirksamkeit, die auch in der sogenannten bekannten Kunst wirksam war. Das ist also keine Willkür jetzt von einem erweiterten Kunstbegriff zu reden.

Also Kunst als kultischer Gegenstand oder Kunst als religiöse Kunst, die einen Erziehungsauftrag hatte, den Menschen selbst mehr und mehr zu einem Kunstwerk zu machen.

Ja, aber noch mehr. Kunst war daran beteiligt, den Menschen hervorzubringen. Wenn man das weiter denkt, kommt man ganz von selbst auf eine Kontinuität, die vom Irdischen hinaus in eine Ursprünglichkeit hineinragt, die dann wiederum wirksam ist, die aber auf der Erde in eine Art Freiheitszustand gebracht werden soll. Freiheit jetzt auch als Freiheit von den Göttern. Das ist ja im Grunde genommen auch der Punkt des Abgrundes, mit dem wir es zu tun haben, wie er sich auch immer deutlicher in den jüngsten Entwicklungen der Menschheit zeigt, als Abgrund, als Abgeschiedenheit, vollkommen von den Quellen abgeschnitten, mit dem ungeheuerlichen Impuls diese Quellen nun selber zu erzeugen, was eigentlich gar nicht denkbar ist. Denn wie soll ich eine Quelle erzeugen, wenn ich zum Erzeugen selber die Quelle brauche? Und damit kommt man dem Geheimnis des Kunstbegriffs näher. Man wird ihn nie ganz verstehen, aber er gibt sich immer mehr selbst zu verstehen.

Es ist für mich die Frage, ob es ganz stimmig ist, wenn man sagt, dass die Quellen erzeugt werden müssen, oder ob es eher darum geht, die Quellen in den Tiefen des eigenen Wesens zu erschürfen, denn veranlagt ist der Mensch dazu ja im Grunde schon.

Ja, schon. Da stimme ich Dir vollkommen zu. Und dennoch spreche ich von erzeugen.

Weil der Vollzug in die Freiheit des Einzelnen gestellt ist?

Ja, das ist ja das eigentliche Mysterium, wo das selbst Erzeugen den ganzen Zeitvorgang umkehrt, nämlich wo Du etwas erzeugen sollst. Jetzt kannst Du sagen: Ja, aber das war ja vorher schon wirksam, als Möglichkeit, als Potenzialität. Aber dennoch ist das, was Du jetzt erzeugst, eine Wirksamkeit, die sich geltend macht für das Ganze. Und damit wird das Ganze auch wirklich umfassend. Und damit wird der Mensch immer entschiedener eingebaut in die Hierarchie der geistigen Kräfte. Man kann sagen, das, was ich jetzt sage, ist gegenüber dem Allumfassenden das Nadelöhr, durch das Du hindurch musst. Man muss sich das vorstellen als eine gewaltige Zusammenziehung in einen einzigen Punkt, aus dem heraus auch dann die Entfaltung, also die Erweiterung überhaupt erst mög- lich wird – als Neues.
Und wer sich mit diesem Vorgang intensiver oder tiefer befasst, der kommt aus dem Staunen nicht mehr raus, also auch in Bezug auf seine eigene Rolle, die er dabei spielt. Denn in dem Moment, wo Du dich damit ernsthaft auseinandersetzt, merkst Du, dass Du jetzt mit im Spiel bist. Und daraus ergibt sich ganz von selbst der Satz: Jeder Mensch ist ein Künstler. Es ist praktisch die Gestaltungsverantwortung des Menschen für die irdischen Zusammenhänge – und für sich selbst. Und diese beiden Aspekte sind voneinander nicht zu trennen. Es ist sozusagen die Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung in Richtung eines Zusammenspiels von innen und aussen.

Noch nicht per se, oder? Es gibt ja Menschen, die sich hauptsächlich mit sich selbst beschäftigen und sich selber entwickeln, ohne ein Bewusstsein davon zu haben, dass das auch für die Welt ist. Und es gibt Menschen, die primär im Aussen tätig sind für die Welt, ohne sich selbst bewusst zu machen, dass sie dadurch auch Teil davon sind. Das braucht dann schon noch ein Bewusstsein, einen Begriff, um das Innen und Aussen wieder zusammen zu bringen.

Und an diesem Zusammenbringen ist der Begriff selbst beteiligt. Denn das, was Du da beschreibst, das ist ja ganz normal. Das sind unterschiedliche Entwicklungsstadien, in denen sich Menschen befinden. Das ändert aber nichts an der Generalaussage, dass auch diejenigen, die überhaupt kein Bewusstsein von der Sache haben, mit beteiligt sind an dem Vorgang. Und daraus ergibt sich dann auch ganz von selber eine zukünftige, oder auch schon gegenwärtig präsente Idee von Arbeitsteiligkeit.

Weil jeder Mensch sich seiner Einzigartigkeit bewusst wird und dadurch auch erkennen kann, welche Rolle nur er selber spielen kann.

So ist es. Und weil sich auch ganz von selber herausstellt, dass jeder Mensch als Spezialist geboren wird. Und weil er das wird, ist er für alle anderen wichtig. Denn diese Spezialität, die er ins Spiel bringt, wird von allen anderen gebraucht. Die ist zur Vollständigkeit dazugehörig. Und dadurch wird Deine Beschreibung nochmal neu beschreibbar durch die Wirksamkeit des Begriffs.

Und ist denn der Begriff «Begriff» und der Begriff «Wesen» dasselbe, oder gibt es da noch eine Differenzierung?

Das müsste man mal genauer untersuchen. Das will ich jetzt nicht im Galopp beantworten. Das gehört mit zu den Fragen, die wir ja ununterbrochen bearbeiten müssen.

Das ist eine Frage, die mir vorhin aufgestiegen ist, als Du von dem Wesen der Kunst und dem Begriff der Kunst gesprochen hast und ich mich gefragt habe, gibt es da einen Unterschied? Das Wesen ist ja das, was sich selbst hervorbringt und erzeugt, und der Begriff ist dann das, was in den Anderen auftaucht als Spiegelung, als Wirksamkeit, oder?

Das sind ja Fragen, die wir alle bearbeiten müssen, weil sie ja zukünftige Gesichtspunkte mit ins Spiel bringen, die wir im Moment noch überhaupt nicht absehen können. Also damit müssen wir immer rechnen. Und insofern sind diese Fragen nach Wesen und Begriff im Wandel. Wesen und Begriff beziehen sich ja auf Begriffe, die uns geläufig sind, die wir aber neu bestimmen müssen. Das sind ja alles bekannte Begriffe, die sind im Umlauf und jeder meint, er würde sie verstehen oder er versteht etwas Bestimmtes darunter.

Dadurch sind sie beliebig geworden und dadurch sind es Worthülsen, die durch einen geistig-künstlerischen Akt neu belebt werden müssen.

So ist es. Weil sie irgendwann mal aus den Begriffen hervorgegangen sind, dann wirklich veraltet sind, Hüllen geworden sind, verkrustet sind, man kann sagen verhärtet sind, materialisiert sind und jetzt erlöst werden müssen. Und damit sind wir bei der entscheidenden Frage, um die es überhaupt geht. Und das ist ja die Christusfrage: wie aus einem Todesvorgang, aus einem Absterbevorgang, ein Auferstehungsvorgang hervorgebracht werden kann, der in Dir selbst auch hervorgebracht wird. Du siehst, dass jeder einzelne Begriff, der jetzt im Spiel ist, wieder Gegenstand der Wirksamkeit werden muss.

Und sich selber auch wieder neu hervorbringen will, also zeitgemäss und bewusstseinsmässig aktualisiert.

Und das ist natürlich für viele Menschen so, wie wir das jetzt besprechen, zunächst einmal gar nicht so einfach zu verstehen. Aber die können sich beruhigen, denn es stimmt.

Teil 1/3 – Fortsetzung folgt im nächsten Magazin

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