Es gibt unzählige Geschichten, die davon berichten, wie von einem Tag auf den anderen eine Landschaft, die es immer gegeben hat, auf einmal nicht mehr da ist.

Text Christine Gruwez | Bild Charles Blockey

Christine Gruwez Geboren 1942 in Kortrijk (Belgien), studierte Philosophie, Altphilologie und Iranistik an der Universität Löwen. Nach dem Studium war sie als Waldorflehrerin und Dozentin in der Lehrerausbildung in Antwerpen tätig. Zahlreiche Forschungsreisen führten sie insbesondere in den Nahen und Mittleren Osten. Als Rednerin und Dozentin ist sie mit Vorträgen und Seminaren zu ihren Schwerpunktthemen in der ganzen Welt unterwegs. Christine Gruwez lebt in Antwerpen/Belgien.

Sei es, dass es eine Naturkatastrophe gegeben hat, sei es, dass eine Reihe mit alten Kastanienbäumen ohne Gründe gefällt wurden sei es, dass der Nachbar einen hohen Zaum um seinen Garten hat errichten lassen, oder, weil die Aussicht auf den weiten Meereshorizont hinter einem Wohnturm verschwunden ist. Nichts kann so tief die innere Seelenruhe stören, als wenn der Blick nach aussen nicht mehr länger die vertraute und geliebte Aussicht finden kann. Oft tun sich dann die verwaisten Betroffenen zusammen, erschüttert. Verloren schreiben sie Petitionen und Leserbriefe, alarmieren die Medien, nicht selten kommt es zu einem Gerichtsverfahren, aber in der Regel bekommen diejenigen, die da in die Landschaft eingreifen wollen, oder das schon getan haben, das letzte Wort. Auch dieses ist total. Nichts fehlt, nichts kann noch dazukommen.

Keiner kann sich zum Besitzer einer Landschaft ausrufen!

Ebenso wenig wie man den Boden oder den Luftraum besitzen kann, obwohl letzteres noch kaum in Frage gestellt wird. Aber wenn es um eine ganze Landschaft geht, tut sich doch noch etwas anderes hervor. Es genügt, sich einmal in die Frage zu vertiefen, was eine Landschaft sei. Heutzutage zum Beispiel ist sie das am meist fotografierte, also reproduzierte ‹Bröckchen› Welt. Jedes Foto zeigt einen Ausschnitt der
Welt, in der wir leben. Aber auch wenn man alle Stückchen wieder aneinanderreihen könnte, bekommt man dennoch keine Landschaft. Denn bei einer Landschaft geht es um einen lebendigen Zusammenhang, den man nicht festlegen kann, ohne das Lebendige aus der Landschaft zu vertreiben. Schon deswegen kann keiner sie besitzen! Was wir in einer Landschaft begegnen, ist genau dieses lebendige Ineinander-Weben, was uns erfreut und heiter stimmt, egal aus welchen Elementen das Gewebe sich gestaltet.

Und erst in unserem Blick entfaltet und zeigt sich dasjenige, was wir als Landschaft erleben. Deswegen unsere Verlorenheit, wenn der Blick auf Gegenstände stösst, aus denen sich nichts gestalten lässt.

Was ist zu tun?

Es gibt aber eine einzige Möglichkeit, das dem Auge verloren gegangene für einen kurzen Moment wieder in sich aufleben zu lassen. Man soll sich ab und zu einen Teppich anschauen können, wo das Lebendige in den schönsten Motiven und Farben eingewoben worden ist, wie ein Lobgesang auf die Verletzlichkeit einer jeder Landschaft. Und zu gleicher Zeit ein Zeugnis dessen, was nie verloren gehen kann, solange wir es als Bild einer Seelenlandschaft in unserem inneren Blickfeld hüten und weitertragen. Und uns im äusseren Blickfeld mit Kraft und Herzensmut die Möglichkeit erhalten, dass neue Landschaften sich im hier und jetzt entfalten können.

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