Die Schönheit einer Landschaft kann unmittelbar erlebt werden. Sie wirkt wie eine Offenbarung. Sie ist reine Gegenwart.

Text Christine Gruwez | Bild Charles Blockey

Christine Gruwez Geboren 1942 in Kortrijk (Belgien), studierte Philosophie, Altphilologie und Iranistik an der Universität Löwen. Nach dem Studium war sie als Waldorflehrerin und Dozentin in der Lehrerausbildung in Antwerpen tätig. Zahlreiche Forschungsreisen führten sie insbesondere in den Nahen und Mittleren Osten. Als Rednerin und Dozentin ist sie mit Vorträgen und Seminaren zu ihren Schwerpunktthemen in der ganzen Welt unterwegs. Christine Gruwez lebt in Antwerpen/Belgien.

Das heisst zum Beispiel, dass dabei nichts verborgen, nichts zurückgehalten wird. Oder auch, dass kein Element dieser Schönheit sich zu den anderen Elementen so verhält, dass es sich selbst über sie erhebt. Schönheit kann nur als ein Totales, als ein Ganzes in Erscheinung treten. Und ganz ähnlich ist das Gewahrwerden der Schönheit. Auch dieses ist total. Nichts fehlt, nichts kann noch dazukommen.

Wer hat nicht schon einmal früh am Morgen erlebt, wie ein Gebirge sich noch lange in der Dunkelheit verborgen hält, bis es sich beim allerersten Sonnenstrahl enthüllt? Wie ein Jubel durchzieht dieses Sichtbarwerden die ganze Umgebung. Alles erwacht! Alles singt vor Freude.

Ganz anders die Landschaft einer Stadt. Unzählige Male ging ich – ebenfalls frühmorgens, wenn alles noch schlief, aus dem Haus, und meine Füsse suchten im Dunkel der Strasse tastend ihren Weg. Nur ein Einzelner kam mir entgegen, oder ein Auto, das alles erhellte und mich einen Moment blendete.

Ob das Licht sich schon ankündigte, ob bald die Sonne aufgehen würde, das konnte ich nicht sehen. Die hohen Häuserblöcke versperrten jegliche Aussicht.

Aber hören! Es zu hören, das war möglich! Ich musste nur nach oben schauen! Und schon hörte ich erste Vogelstimmen, die wie in einem wachsenden Chor das Licht herbeisangen. Immer deutlicher wurde ihr Gesang, die einzelnen Vogelrufe schmiegten sich wie im Tanz aneinander – wirbelnd, klingend, tönend, immer höher bis ganz dort oben, wo zwischen den aufgetürmten Häuserblocks ein Stückchen Himmel ausgespart war und das erste Licht sichtbar wurde. Eine Landschaft, die sich als Klang entfaltete. Eine Stadtlandschaft.

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