Gesamtgesellschaftliche Auswirkungen in Landwirtschaft und Gesellschaft | Ein Gespräch mit dem Wissenschaftsphilosophen Prof. Dr. Michael Esfeld. Das Gespräch führten Mathias Forster & Christopher Schümann, Bio-Stiftung Schweiz.

Ein Gespräch mit: Michael Esfeld. Er ist seit 2002 Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lausanne. Zuvor war er Lecturer in Philosophy an der University of Hertfordshire und C3-Professor für Philosophie an der Universität zu Köln. Seit 2010 ist er Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Er erhielt 2013 den Forschungspreis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Seine Hauptarbeitsgebiete sind die Naturphilosophie und die Philosophie des Geistes. Er hat zahlreiche Publikationen veröffentlicht, u.a. Wissenschaft und Freiheit. Das naturwissenschaftliche Weltbild und der Status von Personen, Berlin: Suhrkamp 2019. (Englisch: Science and human freedom, London: Palgrave-Macmillan 2020).

Vorwort von Christopher Schümann

Woran erkennen wir nachhaltige Landwirtschaft und wodurch können wir sie von nicht nachhaltiger Landwirtschaft unterscheiden? Im Rahmen unserer Arbeit in der Bio-Stiftung Schweiz, in der Förderung einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Land- und Ernährungswirt- schaft, aber auch darüber hinaus, gehen wir fortwährend mit dieser Frage um.

Durch die Landwirtschaft wird momentan viel zu viel zerstört, beispielsweise im Hinblick auf Artenvielfalt oder die Fruchtbarkeit von Böden, das ist mittlerweile unbestritten. Wenn wir uns allerdings fragen, wo die Ursachen dafür liegen, dann – so ist unser Eindruck – können wir dies hauptsächlich einem Grundübel zuschreiben: Wir Menschen haben uns daran gewöhnt, industrielles Denken, das in der Produktion von Zahnbürsten, Maschinen und anderen toten Objekten seine volle Berechtigung haben mag, eins zu eins auf die Landwirtschaft und andere Bereiche zu übertragen, wo es allerdings um Lebewesen geht. Und genau da beginnen aus unserer Sicht die Probleme, denn Pflanzen, Tiere und Menschen sind keine toten Objekte, sondern eben Lebewesen.

Wie sich die Landwirtschaft bisher entwickelt hat und wie sie sich in Zukunft entwickeln wird, hängt sehr stark davon ab, was für ein Bild wir von der Welt haben und auch davon, was wir für ein Bild von uns selbst als Menschen haben. Von diesem Welt- und Menschenbild hängt ausserdem ab, wie wir miteinander umgehen. Und ob, und wenn ja, wie sich unsere Gesellschaft insgesamt in der Zukunft noch weiter entwickeln kann. Verschiedene Krisen, in die wir als Menschheit hineingeraten sind, deuten darauf hin, dass wir es uns nicht mehr länger leisten können, nur an der Oberfläche der Verhältnisse zu kratzen und kosmetische Veränderungen vorzunehmen.

Es ist ein Teil des statutarischen Auftrags und des Selbstverständnisses der Bio-Stiftung Schweiz, Brücken zu bauen, Bewusstsein zu bilden und Menschen zusammenzubringen, die das Potenzial haben, durch Kooperation oder Assoziation einen Mehrwert zu einer gesunden Entwicklung von Erde, Tier und Mensch zu leisten. In unserem Magazin bemühen wir uns deshalb um Klärung komplexer Sachverhalte und lassen dabei auch sehr verschiedene Stimmen zu Wort kommen. Immer wieder, und weil die Debatte zu Corona alle Menschen betrifft und sie aus unserer Sicht deutlich zu einseitig geführt wird, finden wir es nötig und stimmig, aus dem Bereich des Bodens und der Landwirtschaft auch in solche Bereiche hinein zu fragen. Denn schlussendlich hängt ja doch alles miteinander zusammen. Schaut man nur auf das Einzelne, bleibt der Eindruck einseitig. Erst wenn möglichst das Ganze in den Blick genommen wird, um eine stimmige und wirklichkeitsgemässe Diagnose stellen zu können, kann Heilsames entstehen.

Die momentane sogenannte Coronakrise droht die Gesellschaft zu spalten, und das liegt nicht an dem Virus selbst, sondern an der Art, wie in dieser Krise miteinander umgegangen wird.

Spaltungstendenzen zeigen sich ja auch in anderen Bereichen, sei es in der Klimadebatte oder eben in der Frage, wie unsere Landwirtschafts- und Ernährungssysteme nachhaltig werden sollen. Wir müssen dazu kommen, ein Verständnis aus der Tiefe für die Ursachen dieser Krisen zu schaffen, weil wir nur so mögliche Wege erkennen und gehen können, die uns nachhaltig aus diesen Krisen auch wieder herausführen können.

Die Perspektivenvielfalt, das Ganze in den Blick nehmen, das fehlt unserer Wahrnehmung nach in der öffentlichen Corona-Debatte am meisten. Genau deshalb erlauben wir uns, Persönlichkeiten mit erweiterten Perspektiven, die nachweislich eine fundierte und klare Sicht auf die Dinge haben, zu befragen. Diesmal ist Prof. Michael Esfeld unser Gesprächspartner.Ja, es wird in diesem Text an verschiedenen Stellen fundamentale Kritik geäussert. Dies geschieht nicht um der Kritik Willen, sondern zum Bewusstmachen von Entwicklungen und Wirksamkeiten, die sich nicht mehr mit den Prinzipien einer freien und offenen Gesellschaft vereinbaren lassen. Die Kritik betrifft das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft ebenso wie die Art und Weise, wie gewisse Fragen z.B. zu Gesundheit, Klima oder Landwirtschaft in der öffentlichen Debatte behandelt, oder auch nicht behandelt werden.
Das folgende Gespräch soll in diesem Sinne ein Beitrag zur Bewusstseinsbildung sein. Er bietet Denkanstösse zur Überwindung der spürbaren Spaltung unserer Gesellschaft, einen Blick aus einer weiteren Perspektive, sodass Wunden wieder heilen, Gräben zuwachsen können.

Lieber Herr Esfeld, Sie sind Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lausanne. Können Sie unseren Leser:innen kurz erklären, was man unter Wissenschaftsphilosophie versteht und mit was für Fragen Sie sich beschäftigen?

Wissenschaftsphilosophie ist ein Zweig der Erkenntnistheorie, der sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen beschäftigt. Eine Frage ist zum Beispiel, was naturwissenschaftliche Theorien aussagen und wie sich diese Aussagen zu unserer Sicht von uns selbst als Personen verhalten. Beispielsweise kennt die klassische Physik deterministische Naturgesetze, die auch für unseren Körper und unser Gehirn gelten. Wie passt das mit dem freien Willen zusammen, den wir uns als Personen zuschreiben? Um solche Fragen zu beantworten, muss man Erkenntnisse aus verschiedenen Wissenschaftsgebieten miteinander in Einklang bringen. Das ist ein zentrales Thema der Wissenschaftsphilosophie.

Sie hatten im letzten Jahr zunächst intern und dann öffentlich gegen eine Stellungnahme der Akademie Leopoldina zur Coronapolitik in Deutschland protestiert, in der es heisst: «Trotz Aussicht auf einen baldigen Beginn der Impfkampagne ist es aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig, die weiterhin deutlich zu hohe Anzahl an Neuinfektionen durch einen harten Lockdown schnell und drastisch zu verringern». In Ihrem Protestschreiben forderten Sie den Präsidenten der Leopoldina wegen dieser erstaunlichen Aussagen dazu auf, diese Stellungnahme zurückzuziehen, weil sie die Prinzipien wissenschaftlicher und ethischer Redlichkeit verletzen würde. Was war aus Ihrer Sicht an der Empfehlung unredlich?

Die Formulierung «… aus wissenschaftlicher Sicht notwendig …» suggeriert, dass es nur eine wissenschaftliche Sicht gibt, die berechtigt ist (und die von der Leopoldina vertreten wird) und dass aus dieser einzigen (berechtigten) wissenschaftlichen Sicht es als «… unbedingt notwendig …» erscheint, auf politischer Ebene bestimmte Massnahmen zu ergreifen, nämlich einen harten Lockdown zu verordnen. Ich machte in dem Schreiben darauf aufmerksam, dass innerhalb der Wissenschaftswelt unterschiedliche Standpunkte zur Sinnhaftigkeit von harten Lockdowns vertreten werden, und zwar jeweils mit Gründen, und man daher nicht so tun könne, als würde die Wissenschaft mit einer Stimme sprechen. Insgesamt kann die Wissenschaft der Politik nicht sagen, was an politischen Entscheidungen «aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig» ist. Ein besonderer Missbrauch des Ansehens, das Wissenschaft in der Öffentlichkeit geniesst, ist das aber vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der Wissenschaft zu diesem Thema.

Das war ja ein mutiger Schritt, so deutlich öffentlich auszusprechen, was Sie von solchen Stellungnahmen halten. Sie sind oder waren ja selbst Mitglied dieser altehrwürdigen Akademie der Naturforscher. Wie ist es Ihnen seitdem ergangen? Redet man innerhalb der Leopoldina noch mit Ihnen?

Dieses Protestschreiben ist in die Öffentlichkeit gelangt, was ursprünglich gar nicht meine Absicht war. Es hat dann mit zu einer Entwicklung beigetragen, in der sich immer mehr Wissenschaftler kritisch geäussert haben. Leider findet diese Diskussion innerhalb der Leopoldina aber immer noch nicht statt.

Inzwischen sei deutlich, so sagen und schreiben Sie, dass Lockdowns nicht die Wirkung erzielt haben, die sich die Befürworter von diesen harten Massnahmen versprochen haben. Im Gegenteil sei inzwischen bekannt, dass die dadurch herbeigeführten Schäden an der öffentlichen Gesundheit den Nutzen mehrfach übertreffen würden, auch im Hinblick auf verlorengegangene Lebensjahre. Gibt es inzwischen tatsächlich genügend wissenschaftlich fundierte Evidenz, dass Lockdowns nichts bringen, sondern nur Schaden anrichten?

Das ist in der Tat das Ergebnis, das sich in zahlreichen, unabhängig voneinander erstellten Studien inzwischen abzeichnet. Wenn man westliche Länder der nördlichen Hemisphäre mit vergleichbarem wirtschaftlichen Entwicklungsniveau und leistungsfähigen Gesundheitssystemen betrachtet und sich die relevanten Daten zum Infektionsgeschehen wie Krankenhauseinweisungen und Todesfälle im Verhältnis zur Bevölkerung anschaut, dann lässt sich aus diesen Daten nichts in Bezug darauf schliessen, welche dieser Länder scharfe politische Massnahmen wie Lockdowns ergriffen haben und welche nicht. (Quelle: Studien zusammengefasst in Eran Bendavid et al., «Assessing mandatory stay-at-home and business closure effects on the spread of COVID-19», European Journal of Clinical Investigation 51 (2021), e 13484. Siehe auch die Übersicht über die relevanten Studien vom American Institute of Economic Research, «Lockdowns do not control the coronavirus: the evidence», https://www.aier.org/article/lockdowns-do-not-control-the- coronavirus-the-evidence. Siehe ferner Christian Bjørnskov, «Did lockdown work? An economist’s cross-country comparison», CESifo Economic Studies, 29. März 2021, 1-14, DOI: 10.1093/cesifo/ifab003. Des Weiteren zum Beispiel: Vincent Chin et al., «Effect estimates of COVID-19 non-pharmaceutical interventions are non-robust and highly model-dependent», Journal of Clinical Epidemiology 136 (2021), S. 96–132; R. F. Savaris et al., «Stay-at-home policy is a case of exception fallacy: an internet-based ecological study», Nature Scientific Reports 11 (2021), Artikel Nr. 5313. Für eine Kritik der Lockdown-Politik in Deutschland siehe Christoph Lütge und Michael Esfeld, «Und die Freiheit? Wie die Corona-Politik und der Missbrauch der Wissenschaft unsere offene Gesellschaft bedrohen», München: riva 2021.) Es gibt keine Korrelation zwischen den gesamtgesellschaftlichen Zwangsmassnahmen und der Verhinderung von schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen im Zusammenhang mit einer Ansteckung mit dem Coronavirus.
Das lässt sich an einem Vergleich der europäischen Staaten untereinander illustrieren: Länder mit scharfen Massnahmen wie Grossbritannien, Frankreich, Italien, Spanien schneiden keinesfalls gut ab, sondern im Gegenteil ziemlich schlecht. Schweden hingegen steht ziemlich gut dar obwohl nur verhältnismässig wenige Massnahmen ergriffen wurden. Ähnliches gilt für die Schweiz. Deutschland steht im internationalen Vergleich relativ gut da in Bezug auf schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle, aber auch nicht signifikant besser als die westeuropäischen Länder, die auf einen harten Lockdown verzichtet haben. Der Grund dafür ist vermutlich der vergleichsweise gute Gesundheitszustand in der Bevölkerung, das gut ausgebaute Gesundheitssystem und der hohe Lebensstandard. Alles dieses wird jedoch mit den Corona-Massnahmen gerade aufs Spiel gesetzt. Weiterhin aufschlussreich ist der Vergleich zwischen den Bundesstaaten der USA, die alle jeweils eine eigene Politik verfolgt haben. So zum Beispiel South Dakota und North Dakota oder Florida und Kalifornien: South Dakota und Florida haben gar keine oder nur wenige Massnahmen ergriffen. North Dakota hat mehr Massnahmen und Kalifornien ziemlich scharfe Massnahmen verhängt. Diese unterschiedliche Politik hat aber zu keinen signifikanten Unterschieden im Pandemieverlauf insgesamt betrachtet geführt.

Die Leopoldina wurde 1652 gegründet und ist damit die älteste durchgehend existierende naturforschende Akademie der Welt. Ihre veröffentlichten Stellungnahmen haben also Gewicht. Ist Ihnen etwas darüber bekannt, dass die Leopoldina sich für ihre explizite Handlungsempfehlung im Hinblick auf einen harten Lockdown öffentlich entschuldigt hat oder ob sie beabsichtigt, dies zu tun?

Mir ist nicht bekannt, dass es dort eine diesbezügliche Diskussion gibt oder die Bereitschaft vorhanden ist, Verantwortung für das zu übernehmen, was man getan hat. Es ging ja nicht um eine wissenschaftliche Hypothese, die formuliert wurde, und die korrigiert und gegebenenfalls zurückgezogen werden kann. Wissenschaft hat vielmehr einen normativen und moralischen Anspruch erhoben. Sie hat gesagt, was die Politik aus wissenschaftlicher Sicht tun muss. Wenn man so etwas tut, muss man auch für die gesellschaftlichen Folgen geradestehen, die durch eine solche Empfehlung angerichtet wurden.

Sie beschwerten sich ausserdem darüber, dass diese Stellungnahme der Leopoldina als wissenschaftliche Rückendeckung in Stellung gebracht wurde, um den harten Lockdown in Deutschland durchzusetzen. Würden Sie sagen, dass Wissenschaft hier für politische Zwecke missbraucht wurde?

Mir ist jedenfalls aufgefallen, dass einen Tag nachdem die Stellungnahme der Leopoldina veröffentlicht wurde, die Bundeskanzlerin im Bundestag den Lockdown mit Hilfe dieser Stellungnahme und der Berufung auf die Wissenschaft und die Naturgesetze durchsetzen konnte. Damit ist klar, dass die Wissenschaft hier zur Rechtfertigung von politischen Zwangsmassnahmen benutzt wurde. Das Problem ist dann, dass die Verantwortung hin und her geschoben werden kann und am Ende wohl niemand Verantwortung übernehmen wird. Angela Merkel kann sagen, dass sie nur das getan hat, was die Wissenschaft als absolut notwendig erwiesen hat. Die Leopoldina kann sich darauf zurückziehen, dass sie nur etwas empfohlen hat: Wenn die Politik Empfehlungen der Wissenschaft umsetzt, liegt das in der Verantwortung der Politik und nicht der Wissenschaft.

An diesem Vorfall wird jedenfalls deutlich, dass die Wissenschaft der Gefahr ausgesetzt ist, von der Politik instrumentalisiert zu werden. Gefahr droht ihr aus unserer Sicht aber auch von der Wirtschaft, etwa wenn Wirtschaftsunternehmen ihre Interessen durchsetzen wollen und dafür Teile der Wissenschaft für sich vereinnahmen. Der Biochemiker Helmut Burtscher-Schaden (Quelle: Das Gift und Wir, S. 150 ff, Der Fall Glyphosat 1, Westend Verlag 2020)  hat am Beispiel Glyphosat sehr anschaulich herausgearbeitet, wie so etwas gehen kann. Stolze 98% der Herstellerstudien erklärten, dass Glyphosat oder glyphosathaltige Formulierungen nicht gentoxisch seien, während 75% der Tests aus unabhängigen Studien genschädigende Effekte zeigten. Nur spielten die unabhängigen Studien bei der Bewertung von Glyphosat keine Rolle, weil sie von den zuständigen EU-Behörden alle als unzuverlässig eingestuft und damit nicht berücksichtigt wurden. Die Begründung hierfür hatte das Bundesamt für Risikobewertung (BfR) übrigens direkt von Monsanto abgeschrieben, wie sich später herausstellte. Unsere Frage vor dem Hintergrund ist diese: Wie frei und unabhängig ist die westliche Wissenschaft Ihrer Einschätzung nach in unserer Zeit?

Zu dem konkreten Fall kann ich nichts sagen, weil ich das nicht verfolgt habe. Aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann gibt es zu dem Fall unabhängige Studien; das deutet darauf hin, dass das Problem nicht in der Wissenschaft liegt. In dem Fall waren es offenbar die politischen Bewertungen durch entsprechende Behörden, die bestimmte Studien bevorzugten und andere ignorierten, was sie nicht tun dürften. Ich würde aber generell der einen oder der anderen Seite innerhalb der Wissenschaft keine bösen Absichten unterstellen. Es kann sein, dass Wissenschaftler von der Ungefährlichkeit von synthetischen Pestiziden überzeugt sind und dass sie sich in ihren Studien von gewissen Vorurteilen leiten lassen. Das Gleiche kann aber auch von der anderen Seite gesagt werden. Wissenschaftler sind keine Heiligen. Jeder Wissenschaftler geht an seine Forschungen mit gewissen Vormeinungen heran. Das Wesentliche ist ein offener Geist: Man muss bereit sein, die eigenen Vormeinungen zu korrigieren, andere anzuhören und Argumente abzuwägen. Dazu müsste es eine Diskussion zwischen den verschiedenen Gruppen geben. Ich sehe kein Problem darin, dass die Wirtschaft die Wissenschaft finanziert, solange sichergestellt ist, dass die Wissenschaftler trotzdem frei forschen können. Lange Zeit war ich davon überzeugt, dass es gut sei, wenn die Wissenschaft vom Staat finanziert wird, weil der Staat neutral ist. Inzwischen ist mir klar geworden, dass die finanzielle Abhängigkeit der Wissenschaft vom Staat schlimme Folgen haben kann, wenn der Staat selbst bestimmte Interessen verfolgt und dafür eine wissenschaftliche Legitimation einfordert, wie wir es mit der Corona-Politik erlebt haben. Gut wäre es, wenn sich Wissenschaft aus vielen verschiedenen Quellen finanziert, sodass sie ihre Unabhängigkeit bewahren kann und nicht einzelne einflussreiche Gruppen, sei es aus der Wirtschaft oder der Politik, die wissenschaftliche und öffentliche Debatte dominieren können. Dazu ist notwendig, die finanziellen Quellen der wissenschaftlichen Forschung offenzulegen. Wissenschaft sollte unabhängig sein und der Öffentlichkeit dienen. Ich sehe das Problem also nicht in erster Linie in der Wissenschaft als solcher, sondern in der Verzahnung von Wissenschaft und Politik. Bestimmte Wissenschaftler sehen, dass sie Macht ausüben können, wenn sie politische Massnahmen legitimieren; diese politischen Massnahmen nützen Politikern und gewissen Wirtschaftsinteressen, die dann genau diese Wissenschaftler als DIE Stimme der Wissenschaft herausstellen. Was wir im Hinblick auf die Coronaproblematik erleben, ist ein Paradigmenwechsel im Umgang mit Pandemien, der darin besteht, dass politische Massnahmen zur Pandemiebekämpfung eingesetzt werden. Das ist neu. Dieser Paradigmenwechsel wird durch bestimmte Wissenschaftler vorangetrieben, wie Christian Drosten in Deutschland, Neil Ferguson in England und Anthony Fauci in den USA. Viele derjenigen Wissenschaftler, die bis 2019 Koryphäen ihres Faches waren, werden bei diesem Paradigmenwechsel plötzlich als Scharlatane hingestellt. So erging es zum Beispiel John Ioannidis sowie Jayanta Bhattacharya, Sunetra Gupta und Martin Kulldorff – den Autoren der Great Barrington Declaration – und vielen anderen, die einfach nur die bisherige, rein medizinische Vorgehensweise fokussiert auf die gefährdeten Personen vertraten, und zwar mit wissenschaftlich fundierten Begründungen. Sie hatten damit Recht, wie wir inzwischen wissen. Denn wie bereits erwähnt, gibt es keine Evidenz, dass die politischen Zwangsmassnahmen einen positiven Einfluss auf den Pandemieverlauf hatten oder haben. Ganz im Gegenteil wird zunehmend deutlich, dass die Zwangsmassnahmen der öffentlichen Gesundheit schweren Schaden zufügen. Es gab in der Vergangenheit einzelne Wissenschaftler, die bereits bei früheren Virenausbrüchen wie der Schweinegrippe 2009 Pandemien bisher ungeahnter Grössenordnung prognostizierten und politische Massnahmen forderten. Dazu gehörten zum Beispiel Christian Drosten und Neil Ferguson. Dass diese Wissenschaftler plötzlich in den Medien als die Vertreter DER Wissenschaft dargestellt wurden, ist kein wissenschaftlicher, sondern ein politischer Vorgang. Aus politischen Gründen wurden die einzelnen Wissenschaftler, die diesen Strategiewechsel antrieben, von Medien und Politikern so dargestellt, als ob ihre radikalen Vorschläge alternativlos wären. Anderslautende Stimmen wurden durch eine gezielte mediale und politische Kampagne unterdrückt. Inzwischen wissen wir zum Beispiel auch, dass vom deutschen Innenministerium Wissenschaftler gezielt angesprochen wurden, Panikszenarien zu entwerfen, um die verängstigte Öffentlichkeit für politische Zwangsmassnahmen zu gewinnen. Mit seriöser Wissenschaft hat das nichts mehr zu tun und auch nicht mit dem Schutz der öffentlichen Gesundheit.

Der Arzt Dr. Thomas Hardtmuth macht in seinem Buch „Mikrobiom und Mensch“ auf die medizinische Forschung im Bereich der Psychoneuroimmunologie aufmerksam. Offenbar gibt es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Ängsten und Stress als inneres Erleben, das wir alle kennen, und der Schwächung unseres Immunsystems. Scheinbar können Angst und Stress schwere Krankheiten wie zum Beispiel Krebs auslösen. Und ein durch Angst und Stress geschwächtes Immunsystem ist scheinbar auch anfälliger für Viruserkrankungen. Wenn das stimmt, dann ist die massive öffentliche Panikmache, wie sie von Politik und Medien seit längerer Zeit betrieben wird, aus medizinischer Sicht betrachtet kontraproduktiv und schädlich für die öffentliche Gesundheit. Wie sehen Sie das?

Es ist offensichtlich, dass man das Immunsystem der Menschen schwächt, wenn man sie einsperrt und ihnen Angst macht. Ich bin kein Mediziner,  aber ich kann Statistiken lesen. Man sieht eine deutliche Korrelation zwischen dem Zustand des Immunsystems eines Menschen und dem Ausbruch bzw. dem Verlauf einer Viruserkrankung. Die Immunsysteme der Menschen sind individuell verschieden und sind tendenziell bei alten Menschen schwächer. Man wusste von Anfang an, dass ältere Personen mit Vorerkrankungen, die das Immunsystem schwächen, besonders gefährdet sind. Im Frühjahr 2020 konnte man nur grobe Schätzungen der Infektionssterblichkeitsrate vornehmen. Aber seitdem wurde der Wert der Infektionssterblichkeitsrate nach unten angepasst. Die verfügbaren Daten legen für die westlichen Länder der nördlichen Hemisphäre mit funktionierendem Gesundheitssystem eine Infektionssterblichkeit im Mittelwert von ungefähr 0,3–0,4% nahe. Weltweit ist die Infektionssterblichkeitsrate noch einmal deutlich tiefer, nämlich bei ungefähr 0,15%. Für alle Personen unter 70 Jahren (alle Vorerkrankungen in dieser Gruppe mit eingerechnet) liegt auch in den westlichen Ländern die Infektionssterblichkeit bei nicht wesentlich mehr als ungefähr 0,05%. Mit zunehmendem Alter steigt die Infektionssterblichkeit dann deutlich an. Das heisst: Statistisch gesehen sterben von 10.000 Personen unter 70 Jahren, die sich mit dem Coronavirus infizieren, nicht wesentlich mehr als 5 im Zusammenhang mit der Infektion. Für die gesamte Bevölkerung in unseren Ländern sind es 3 bis 4 Personen pro 1000 Infizierten. (Quelle: Eine zentrale Referenz für die Abschätzung der Infektionssterblichkeitsrate und den Vergleich zwischen verschiedenen Ländern und Altersgruppen ist in John Ioannidis, «Infection fatality rate of COVID-19 inferred from seroprevalence data», Bulletin of the World Health Organization, Article ID: BLT.20.265892, publiziert 14. Oktober 2020).
Ein statistisches Risiko von 0,05% zu Tode zu kommen ist auf die Gesamtbevölkerung bezogen etwas, das wir im alltäglichen Leben akzeptieren, zum Beispiel beim regelmässigen Autofahren, bei Freizeitaktivitäten wie Bergwandern und anderen Sportarten sowie in der saisonalen Grippe. Ein Risiko in einer solch kleinen Grössenordnung kann man auch gar nicht mehr wesentlich reduzieren; denn mit allem, was man tut, ist ein geringfügiges Risiko verbunden, selbst schweren Schaden zu erleiden oder anderen schweren Schaden zuzufügen. Auch ein umsichtiger Autofahrer kann in eine Situation kommen, in der er die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert und einen Fussgänger überfährt. Motorradfahren ist noch einmal viel gefährlicher, sowohl was die Gefährdung von sich selbst als auch was die Gefährdung anderer betrifft, und wird trotzdem akzeptiert. Kurz: Eine Infektionssterblichkeit um die 0,05% ist kein nennenswertes Risiko. Vor diesem Hintergrund ist die gezielte Panikmache aus wissenschaftlicher Sicht und unter Berücksichtigung dessen, was wir gegenwärtig wissen, unbegründet. Wer sich trotzdem an dieser Panikmache beteiligt, schädigt aus den oben genannten Gründen ganz gezielt die öffentliche Gesundheit.

Harthmuth spricht auch davon, dass die stark simplifizierenden, reduktionistischen Denkweisen und Erklärungsmuster, von denen die Medizin heute beherrscht wird, nicht geeignet sind, komplexe medizinische Probleme zu verstehen, geschweige denn sie zu lösen. Seiner Ansicht nach hängt viel davon ab, dass die Medizin den Schritt in die Komplexität schafft, indem sie eindimensionale Erklärungsmuster überwindet und die Forschungsergebnisse aus verschiedenen Wissenschaftsgebieten in die Gesamtbeurteilung mit einfliessen lässt. Er beschreibt das an dem Narrativ, welches heute die Coronapolitik in fast allen Ländern der Erde bestimmt: «… Viren machen krank und verbreiten sich über Ansteckung. Viren können mutieren und zu schlimmen Seuchen mit vielen Todesopfern führen. Also müssen wir, um das zu verhindern, möglichst viele Kontakte und damit die Ansteckung verhindern; wir müssen Schulen, Läden, Restaurants, Hotels, Theater, Konzertsäle schliessen und alle Arten von menschlichen Versammlungen verbieten, um das Problem zu lösen …». Er weist in diesem Zusammenhang auf ein «Experiment» hin, an dem deutlich wird, dass diese Sichtweise viel zu einfach ist und deshalb nicht stimmen kann. Das Experiment wurde nach dem 1. Weltkrieg durchgeführt, also vor mehr als hundert Jahren. Es war die Zeit der Spanischen Grippe und das Experiment bestand darin, dass man straffällig gewordenen US-Soldaten den Nasenschleim von schwer an der spanischen Grippe erkrankten Patienten in Mund und Rachen sprühte, und es wurde ihnen Straffreiheit in Aussicht gestellt, wenn sie das überleben. Nach dem auch in der Coronakrise noch geltenden Narrativ hätten alle straffällig gewordenen US-Soldaten sterben oder wenigstens schwer erkranken müssen. Fakt ist aber, dass keine einzige dieser Versuchspersonen erkrankte. Man braucht kein Virologe und auch kein Mediziner sein, um anhand dieses Experiments zu erkennen, dass es bei der Verhinderung von massenhaften Viruserkrankungen auf etwas ganz anderes ankommen würde, nämlich zum Beispiel darauf besser zu verstehen, warum alle 30 an dem Experiment teilgenommen habenden US-Soldaten nicht erkrankt sind, obwohl sie in extremer Form der Virenlast der Schwerkranken ausgesetzt wurden. Wenn man das wüsste, dann könnte man wohl einen hochwirksamen präventiven Schutz der Bevölkerung gegen Viruserkrankungen vorantreiben. Aber erstaunlich ist: von alledem hören und sehen wir in der öffentlichen Diskussion zur Pandemiebekämpfung so ziemlich nichts. Wie kann es sein, dass es Vertretern dieser offensichtlich zu einfachen eindimensionalen Denkweise in der Wissenschaft über einen Zeitraum von über hundert Jahren gelingt, eine derart dominante Stellung zu behaupten?

Das Problem ist, dass man Menschen in dieser reduktionistischen Weltanschauung als physikalische Objekte ansieht, die gar keine Persönlichkeit und keine Würde haben, die also nur von äusseren Kräften, die auf sie einwirken, gesteuert werden. Daraus resultieren die Gedanken des Abstandhaltens, der Einschränkung der Bewegungsfreiheit usw. Wenn ich 100 physikalische Objekte nehme und sie einer äusseren Wirkung, z.B. einem elektromagnetischen Feld, aussetze, dann werden sie alle gleich reagieren. Wenn ich 100 Menschen nehme, dann ist das nicht so. Denn wie Menschen auf solche äusseren Einflüsse reagieren, hängt davon ab, wie ihr Körper und ihr Immunsystem beschaffen sind, wie ihre geistige Einstellung zu den äusseren Einflüssen ist, die auf sie einwirken, und wie sie damit umgehen. Das ist der Fehler in allen diesen Modellen, dass man sich die Menschen als physikalische Objekte vorstellt, die man von aussen steuern kann und muss, um die Ausbreitung von Viruserkrankungen zu verhindern, dabei aber völlig ausser Acht lässt, dass die Menschen freie Subjekte sind, die ihr Verhalten gemäss ihrer Einstellung, ihren Werten und Zielen und ihrer Beurteilung der Situation anpassen. Es gibt kein allgemeines Gut der Gesundheit, auf das hin eine technokratische Steuerung der Gesellschaft möglich wäre. Denn niemand lebt für das Leben allein, sondern für das, was der eigenen Existenz einen Sinn gibt. Um das Lebensziel zu erreichen, geht jeder bestimmte Risiken ein. Dieses Lebensziel ist Kraftquelle und stiftet damit auch körperliche Gesundheit. Das Problem ist nun, dass es kein einheitliches Lebensziel für alle und keine einheitliche Risikoabwägung für alle gibt. Deshalb scheitert der Versuch einer technokratischen Steuerung der Menschen auf Gesundheit hin als Bedingung für ein selbstbestimmtes Leben an eben dieser Selbstbestimmung, aufgrund derer die Menschen sich verschiedene Lebensziele setzen und Risiken verschieden abwägen. Ein Leben, das unter politischen Vorgaben der Lebensführung steht, ist kein selbstbestimmtes Leben. Solche Vorgaben führen nie zu einem selbstbestimmten Leben hin, sondern stets weiter in die Fremdbestimmung hinein – hier die Knechtschaft, unter der Knute angeblich wissenschaftlicher Vorgaben für die Lebensführung zu stehen.

Wir würden vor dem Hintergrund dieses technokratischen Bewusstseins, von dem Sie gesprochen haben, gern noch einen Blick auf die Landwirtschaft und unser Lebensmittelsystem werfen. Denn es scheint auch hier dieses ausschliessliche Objektbewusstsein eine wesentliche Rolle zu spielen. Wenn man sich zum Beispiel ansieht, wie Tiere in der Massentierhaltung gehalten und wie sie geschlachtet werden, dann wird schnell klar: auch Tiere werden so behandelt, als wären sie bloss Objekte. Man hat kein Bewusstsein davon oder es ist gleichgültig, dass Rinder, Schweine und Hühner empfindende Kreaturen sind und man unendliches Leid erzeugt, wenn man sie so behandelt. Beim Umgang mit den Pflanzen und den Böden sieht es nicht besser aus. Hier zeigt sich unsere zivilisierte Gesellschaft sicher nicht von ihrer besten Seite, wenn sie solches Leid und solche Zustände zulässt. Aber abgesehen davon gibt es inzwischen sehr interessante Studien, die zu belegen scheinen, dass dieser Umgang mit Tieren, im erweiterten Sinne auch mit Wildtieren, sehr gravierende Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit hat. Es scheint so zu sein, dass in der Natur gewisse Schutzmechanismen wirksam sind, d.h. die Natur tendiert von sich aus dazu, dem dauerhaften Stress der Tiere in der Massentierhaltung dadurch entgegenzuwirken, dass sie das leidvolle Leben durch allerlei tödliche Krankheiten frühzeitig beendet. Daher gibt man den Tieren zum Beispiel auch prophylaktisch Antibiotika, um entsprechenden Krankheiten vorzubeugen und die Tiere auf diesem Wege zu zwingen, bis zur Schlachtreife am Leben zu bleiben. Nun entstehen auf diese Weise aber antibiotikaresistente Keime, die zu Krankheitserregern werden und ihren Weg dann in den menschlichen Organismus finden, auf die eine oder andere Weise. Das hat dann zur Folge, dass gegen diese Keime wichtige Antibiotika in der Humanmedizin nicht mehr wirksam sind und an den Folgen allein in Deutschland fünfzehntausend Menschen pro Jahr sterben.
Einen ähnlichen kausalen Zusammenhang hat die Wissenschaft bereits für verstärkt auftretende Viruserkrankungen aufgezeigt. Auch hier scheint eine wesentliche Ursache darin zu liegen, wie wir Menschen mit Tieren umgehen. Solche Forschungsergebnisse sind ja bedeutsam und sie sollten in der Humanmedizin von hohem Interesse sein, weil menschliches Leben davon abhängt, ob sie berücksichtigt werden. Aber es hat nicht den Anschein, als würde man solchen Forschungsergebnissen in der Wissenschaft, in der Medizin, in der öffentlichen Debatte und in der Politik besonders viel Bedeutung beimessen. Wie ist da Ihr Eindruck?

In dem Umgang mit den Tieren spiegelt sich sicher auch der Umgang mit uns selbst. Wenn man sie als blosse fleischliefernde Objekte betrachtet, lässt man ausser Acht, dass sie auch Bewusstsein und Empfindungen haben, wenn auch keine Vernunft und keinen freien Willen und damit keine selbstbestimmte Lebensführung wie wir Menschen. Wenn alle diejenigen, die das Weltklima retten wollen, zunächst einmal über ihr eigenes Konsumverhalten nachdenken würden, wäre sicher schon viel gewonnen. Wir haben es als Konsumenten in der Hand, auszuwählen, welche Lebensmittel wir kaufen und konsumieren. Das von Ihnen beschriebene System funktioniert nur, weil die Konsumenten und Kunden es hinnehmen. Was die Wissenschaft betrifft, so weiss man, dass Tiere Bewusstsein haben und damit auch einen je subjektiven Standpunkt des Erlebens einnehmen. Erkenntnistheoretisch ist dieses Wissen Allgemeingut; aber es wird im Umgang mit den Tieren nicht berücksichtigt: Dort wird Wissenschaft viel zu sehr rein technokratisch eingesetzt, um unmittelbaren Nutzen aus den Tieren zu ziehen, ohne die weiterreichenden Folgen zu bedenken. Es ist dieselbe technokratische Einstellung, die in der Corona-Krise sogar auf die Menschen selbst angewendet wird, indem man sie als blosse Virenschleudern betrachtet, deren Bahnen man steuern kann und muss, ohne sich überhaupt Gedanken über die Menschenwürde zu machen.

Und wie schätzen Sie die Chancen ein, dass systemische Forschungsansätze und -ergebnisse, welche die Komplexität der Wirklichkeit durch fakultätsübergreifende Zusammenarbeit stärker berücksichtigen, sich in Zukunft mehr Geltung verschaffen können?

Ich bin optimistisch, dass das geschehen wird, weil die beteiligten Forscher sich über diese Zusammenhänge ja durchaus im Klaren sind. Es stehen ihnen allerdings politische und wirtschaftliche Interessen entgegen.

Wir möchten nochmal auf dieses technokratische Welt- und Menschenverständnis zurückkommen, weil wir den Eindruck haben, dass hier einer der tieferen Gründe für die Spaltungstendenzen in der Gesellschaft und auch für die Unzufriedenheit und Verzweiflung vieler Menschen liegt. Ist es Ihrer Ansicht nach auch bei Politikern dieses Welt- und Menschenbild, das nur Objekte kennt, und das sie dann dazu veranlasst, politische Zwangsmassnahmen zu beschliessen und Menschen von aussen gegen ihren Willen zu Handlungen zu zwingen oder zu drängen, die sie nicht tun wollen? Ist es auch hier dieses technokratische Welt- und Menschenbild, das Politiker letztlich dazu bringt, den Bürgern ihre Grundrechte zu nehmen, indem sie ihnen verbieten, sich frei zu bewegen, ihren Beruf auszuüben usw., weil sie meinen, Menschen seien Objekte, die sie nach Belieben von aussen steuern können, oder sogar müssen?

Das ist genau der Punkt. Mit einem Fachbegriff würde ich das, was hier vorliegt, «Szientismus» nennen. Das ist eine spezielle Form des Reduktionismus, die sich durch eine verengte und vereinfachte Weltsicht zu erkennen gibt. Man kann es auch als technokratisches Menschenbild bezeichnen, bei dem die Menschen nur noch als naturwissenschaftliche Objekte angesehen werden, die man in der Bahn, in der sie sich bewegen sollen, steuern kann und sollte und nicht mehr als Personen anerkennt, die frei in ihrem Urteilen und Handeln sind, die eine Würde und damit unveräusserliche Rechte haben. In dieser Weltanschauung liegt ein Irrtum, der sich schnell aufklären lässt. Wenn Wissenschaftler diese Weltanschauung auf ihr eigenes Denken und Forschen anwenden würden, dann könnten sie schnell erkennen, das sie ihre Forschung nur betreiben können, weil sie mehr sind als physikalische Objekte. Sie stellen mit ihren Aussagen diskursive Ansprüche. Sie sagen, dass das, was sie behaupten, Gründe hat. Sie können sich mit verschiedenen Positionen zu einem Thema vertraut machen, wenn sie das wollen. Sie können ihre eigenen Ansichten weiter entwickeln und auch korrigieren, wenn diese sich als fehlerhaft erweisen. Insofern sind sie Personen und eben keine Objekte. Das Gleiche gilt natürlich auch für Politiker und letztlich alle Menschen. Daran wird deutlich, dass Wissenschaft und die Klärung von Sachverhalten die Freiheit im Denken und Handeln zur Voraussetzung hat. Diejenigen Personen aus Wissenschaft und Politik, die im Hinblick auf das Coronathema momentan den öffentlichen Diskurs dominieren, müssten sich mit ihren Gründen der Öffentlichkeit stellen, das heisst sich selbst als Personen verhalten und die anderen als Personen anerkennen, auch wenn sie anderer Meinung sind. Das würde bedeuten, dass ein freier öffentlicher Diskurs stattfinden kann, bei dem es auf Argumente und Gründe ankommt und nicht auf Gewalt und Machtausübung. Es ist problematisch, wenn die öffentliche Meinung oder der wissenschaftliche Diskurs gesteuert wird in dem Sinne, dass die Politik oder sonst eine Autorität festlegt, welche Meinungen in den öffentlichen oder wissenschaftlichen Diskurs einfliessen dürfen und welche nicht. Das wäre wieder diese technokratische Einstellung, dass man meint, Dinge von aussen steuern zu können, in diesem Fall die öffentliche Meinung. Wissenschaft lebt von dem freien Diskurs. Das ist die zentrale Voraussetzung dafür, dass sie sich weiterentwickeln kann. Wenn wir das verlieren, dann geht uns der wissenschaftliche Fortschritt verloren. Und es geht uns gleichzeitig das verloren, was den Rechtsstaat und die offene Gesellschaft ausmacht. Das ist leider genau das, was meiner Ansicht nach gerade stattfindet.

Was uns wohl auch verloren geht, ist das Bewusstsein von Verantwortung. Denn wenn Sie zurecht sagen, dass physikalische Objekte keine Würde haben, die man berücksichtigen müsste, und auch keine Rechte, dann muss man wohl auch sagen, das physikalische Objekte keine Verantwortung tragen können. Ist die logische Folge dieses technokratischen Weltbildes, dass wir als Gesellschaft zwangsläufig in die Verantwortungslosigkeit abgleiten werden, wenn es uns nicht gelingt, dieses reduktionistische technokratische Menschenbild zu überwinden?

Damit sind wir wieder am Anfang unseres Gesprächs angelangt, wo wir festgestellt hatten, dass sich Frau Merkel zur Rechtfertigung für den harten Lockdown auf die Empfehlung der Naturwissenschaft und die Wirkung von Naturgesetzen berufen hat. In ihrer subjektiven Wahrnehmung standen das Virus und seine Ausbreitung sowie politische Massnahmen wie der harte Lockdown in einem naturgesetzlichen Zusammenhang, der alternativlos ist und für den sie keine Verantwortung trägt. Warum sollte sie auch für die Wirkung von Naturgesetzen die Verantwortung übernehmen? Und die Naturwissenschaft beruft sich darauf, dass sie gegenüber der Politik ja nur Empfehlungen ausgesprochen hat. In diesem Selbst- und Weltverständnis ist letztlich kein Raum für Verantwortung, weil es in dieser Weltsicht nur Objekte und zwingend wirkende Naturgesetze gibt.
Insofern haben Sie Recht, wenn wir das Bewusstsein von Personen, ihren Rechten und ihrer Würde verlieren, dann verlieren wir auch das Bewusstsein für Verantwortung. Das ist übrigens ein wesentliches Merkmal aller totalitären Systeme und entspricht ganz der Logik der innerhalb dieser Gesellschaften perfekt funktionierenden Menschen. Von den Nationalsozialisten, die sich in den Nürnberger Prozessen verantworten mussten, fühlte sich niemand für das verantwortlich, was er getan hatte. Sie beriefen sich auf Befehle, denen sie sich mit naturgesetzlicher Macht zu fügen hatten und auf vermeintliche Naturgesetze, die sagen, dass bestimmte menschliche Rassen minderwertig sind und man sie daher ausrotten sollte. Sie waren subjektiv der Meinung, dass sie mit ihrem Handeln nur die Naturgesetze des Ablaufs der Weltgeschichte erfüllen. Da war kein Verantwortungsbewusstsein, weil die Wahnvorstellung vorhanden war, dass man nur Naturgesetzen folgt, die mit zwingender Notwendigkeit in der Welt wirksam sind. Das ist eine Form von Wahnsinn und das erleben wir heute auch wieder. Das Thema ist das Gleiche – Naturgesetze, die uns angeblich normativ bestimmte Handlungen auferlegen, die sich über Menschenwürde und Grundrechte hinwegsetzen –, auch wenn es natürlich insofern nicht vergleichbar ist, dass heute nicht gezielt Menschen vernichtet werden. Im Nationalsozialismus war es die vermeintlich überlegene Rasse, die gezüchtet werden und sich durchsetzen sollte, in der Sowjetunion war es die Überwindung des Kapitalismus zugunsten der klassenlosen Gesellschaft. Bezeichnend ist, dass diese totalitären Systeme, in denen es aus den genannten Gründen kein Verantwortungsbewusstsein und keine Achtung vor der Menschenwürde gab, das angeblich Gute, auf das sie ausgerichtet waren, zerstört haben.

Wir wollen noch einmal auf das Thema Impfen zu sprechen kommen, weil es derzeit einfach so viele Gemüter erregt und so viele Menschen an den Rand der Verzweiflung bringt und darüber hinaus und daran eine Frage anknüpfen. Menschen, die sich aus medizinischen Gründen nicht gegen das Coronavirus impfen lassen wollen, sind momentan Repressalien von Seiten des Staates ausgesetzt, die man in dieser Intensität vor einigen Jahren noch für unmöglich gehalten hätte. Solche medizinischen Gründe, die Menschen davon abhalten, sich impfen zu lassen sind zum Beispiel: 1. Es gibt keine Langzeitstudien zu den Nebenwirkungen der verwendeten Impfstoffe, weshalb das Risiko individuell als zu hoch eingeschätzt wird. 2. Es sind inzwischen Impfschäden aufgetreten, die so zahlreich sind, zum Teil auch mit tödlichem Ausgang, dass man eigentlich objektiv gesehen nicht mehr davon sprechen kann, das diese Impfstoffe ungefährlich sind. 3. Es zeigt sich anhand von zahlreichen Impfdurchbrüchen immer deutlicher, dass die Impfstoffe nicht das können, was ihnen anfangs zugesprochen wurde, nämlich, dass sie wirksam vor Covid-19 schützen und dass sie verhindern können, dass Geimpfte andere Menschen anstecken können. Diese Gründe führen bei vielen Menschen nach sorgfältiger Abwägung zu der individuellen Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen. Währenddessen hat der Sozialausschuss des französischen Senats einen Gesetzentwurf eingebracht, der die Impfung gegen Covid-19 für alle französischen Bürger verbindlich zur Pflicht machen soll. Solche Dinge finden statt, während gleichzeitig bekannt ist, dass es inzwischen verschiedene wirksame Medikamente gegen Covid-19 gibt, die offenbar ausreichend dabei helfen können, schwere Verläufe zu verhindern. Das heisst die Schulmedizin hat inzwischen verschiedene Möglichkeiten, um schwere Krankheitsverläufe von Covid-19 abzumildern und nicht nur denjenigen der Impfung. Wie erklären Sie sich vor diesem Hintergrund die nach wie vor einseitige Fixierung auf das Impfen in der öffentlichen Debatte und auch in den Köpfen vieler Politiker und wie bewerten Sie diese Entwicklung?

In der Schulmedizin entwickelt man ja Medikamente gegen die Krankheit. Darunter sind offenbar auch welche, für deren Wirksamkeit Evidenz vorliegt. Warum wird das nicht berücksichtigt? Der Grund liegt wieder in der politischen Fokussierung. Das sieht man zum Beispiel an den Arbeiten von Neil Ferguson, einem Berater der Britischen Regierung. In einem Paper von ihm vom März 2020 steht eigentlich alles drin. Er hat geschrieben, dass die Pandemie erst dann zu Ende ist, wenn wir Impfstoffe haben und alle geimpft werden und dass das ungefähr eineinhalb Jahre dauern wird. Genau nach diesem Plan ist es abgelaufen. Die Durchimpfung der Bevölkerung war von vornherein geplant, und sie wird nun gemäss diesem Plan durchgezogen über die Würde der Menschen hinweg und gegen alle Evidenz, die wir inzwischen haben.

Die verfügbaren Daten zeigen inzwischen, dass es keinen Beleg für die Behauptung gibt, gemäss der die Ungeimpften die Pandemie antreiben. Es gibt Länder mit einer hohen Impfquote, die trotzdem viele Infektionen haben, einschliesslich einer signifikanten Anzahl von Krankheits- und Todesfällen unter Geimpften, wie zum Beispiel Israel. Und es gibt Länder mit einer niedrigen Impfquote, die trotzdem nur wenige Infektionen haben, wie zum Beispiel einige Gliedstaaten in den USA. Eine geographisch sehr breit aufgestellte Untersuchung, die Daten aus 68 Staaten und 2947 Bezirken in den USA mit Stand Anfang September 2021 auswertet, kommt zu dem Ergebnis, dass keine Korrelation zwischen der Impfquote in der Bevölkerung und den nachgewiesenen Infektionen besteht. (Quelle: S. V. Subramanian und Akhil Kumar, «Increases in COVID-19 are unrelated to levels of vaccination across 68 countries and 2947 countries in the United States», European Journal of Epidemiology, DOI: 10.1007/s10654-021-00808-7, veröffentlicht 9. September 2021). Alle wesentlichen Behauptungen, auf die sich die Corona-Politik stützt, haben sich inzwischen als falsch herausgestellt: Es stimmt nicht, dass das Coronavirus eine Krankheit verbreitet, die für die gesamte Bevölkerung gefährlich ist. Es stimmt nicht, dass mit dem Strategiewechsel von der medizinischen zur politischen Bekämpfung der Ausbreitung des Virus mit gesamtgesellschaftlichen Zwangsmassnahmen in einer statistisch signifikanten Weise schwere Krankheitsverläufe und vorzeitige Todesfälle verhindert wurden. Es stimmt nicht, dass die Ungeimpften die Pandemie antreiben und dass durch die Impfung der gesamten Bevölkerung ungeachtet dessen, ob die betreffenden Menschen persönlich gefährdet sind, die Ausbreitung des Virus gestoppt wird. Die Eliten, wenn ich das so sagen darf, in Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Medien verhalten sich momentan so, wie wenn der Staat eine Familie wäre und sie die Familienoberhäupter sind und den Unmündigen gegenüber die Entscheidungen treffen, indem sie sagen, wo es lang geht und das dann entsprechend mit Belohnung und Bestrafung durchsetzen. Das ist das Familien- und Clanmodell vergangener Zeiten übertragen auf die Gesellschaft und den Staat von heute. Das Familienmodell, in dem ein Oberhaupt sagt, wo es langgeht und die anderen zu parieren haben, hatte natürlich in der Evolution zu gewissen Zeiten Vorteile, auch in kleinen Gruppen. Es war gut, dass es einen Führer gab, wenn zum Beispiel eine unmittelbare Bedrohung da war, wie von wilden Tieren gefressen zu werden. Wenn sich das aber in unserer Zeit wieder durchsetzt, dann ist das ein Rückschritt in längst vergangene Zeiten. Es wäre das Ende von dem, was man Republikanismus nennt und was auf Aristoteles und Kant zurückgeht. Das wäre das Ende der Idee, dass die öffentlichen Angelegenheiten von freien, mündigen Bürgerinnen und Bürgern in gemeinsamer Beratung behandelt werden und es eben nicht so ablaufen darf, wie in Familien oder in Clans früherer Zeiten, wo ein Oberhaupt die Entscheidungen trifft und die anderen zu parieren haben. Ich bin davon überzeugt, dass wenn sich diese Entwicklung der Entmündigung der Menschen, wie wir sie momentan beobachten, fortsetzt, dann ist das das Ende des Zeitalters der Aufklärung. Wir sollten nicht zulassen, dass das passiert.

Herr Esfeld, wir danken Ihnen sehr für dieses Gespräch und wünschen Ihnen alles Gute!

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