Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln wird derzeit kontrovers diskutiert. Dabei wird häufig das Argument angeführt, eine Produktion ohne synthetische Pestizide sei nicht möglich. Der Biolandbau, wo diese Stoffe nicht zulässig sind, zeigt jedoch, dass es auch anders geht: indem man Krankheiten und Schädlingen durch angepasste Anbausysteme vorbeugt.

Dr. agr. Claudia Daniel arbeitet seit zwanzig Jahren im Bereich Schädlingsbekämpfung am Forschungsinstitut biologischer Landbau (FiBL) in der Schweiz. Sie leitet dort die Gruppe Pflanzenschutz-Entomologie

Die Pflanzenschutzpyramide

Im Bioanbau, wo keine synthetischen Pestizide, sondern nur natürliche Stoffe gegen Krankheiten und Schädlinge eingesetzt werden dürfen, gibt es für viele Schädlinge keine effiziente Bekämpfungsmöglichkeit. Daher ist es für die Biobauern zwingend, die vorbeugenden Massnahmen auszuschöpfen. Das Vorgehen lässt sich dabei anhand der Pflanzenschutzpyramide illustrieren:

 

Naturschutz als Basis

Basis der Pyramide sind Extensivierung und die Aufwertung der Landschaft, denn die Natur braucht Rückzugsräume. Und die Landwirtschaft braucht diese Rückzugsräume auch: Verschiedene Studien zeigen, dass in vielfältigen, artenreichen Landschaften der Schädlingsbefall geringer ist, da sich die natürlichen Gegenspieler besser etablieren können. Massnahmen wie Hecken und Blühstreifen bringen also dem Bauern einen konkreten Nutzen.

Unterschätzte Kulturmassnahmen

Die nächste Stufe in der Pyramide sind Standortwahl und Kulturmassnahmen. Durch eine ausgewogene Fruchtfolge können z.B. viele Krankheiten von vorn herein vermieden werden. Angepasste Bewässerungszeitpunkte im Salatanbau sind gleich effizient wie der Einsatz von Schneckenkorn. Spinnmilben und Blattläuse im Apfelanbau können durch die Anpassung des Baumschnitts unterdrückt werden. Bei der Kirschessigfliege hat die Schalenfestigkeit von Weintrauben einen Einfluss darauf, ob sie Eier legen können oder nicht. Es gibt zahlreiche weitere Faktoren, die das Nützlings-Schädlingsgleichgewicht deutlich beeinflussen können. Leider sind das auch meist Faktoren, die bisher nicht gezielt für Pflanzenschutzzwecke genutzt werden. Das Potential auf dieser Stufe ist momentan bei weitem noch nicht ausgeschöpft und kann einen wichtigen Beitrag zur Pestizidreduktion leisten.

Funktionelle Biodiversität

Auch die nächste Stufe, die funktionelle Biodiversität hat viel Potential. Unter funktioneller Biodiversität versteht man die gezielte Förderung von spezifischen Nützlingen gegen bestimmte Schädlinge. In einem Forschungsprojekt am FiBL wurde im Kohlanbau ausgehend vom Schädling, der Kohleule und dem Kohlweissling, untersucht, welche Gegenspieler diese Schädlinge im Feld angreifen. Gefunden wurden verschiedene Arten parasitischer Schlupfwespen. Im nächsten Schritt wurde gefragt, was die Ansprüche dieser Schlupfwespen sind: sie brauchen Nektar als Nahrung, zum richtigen Zeitpunkt, in der richtigen Zuckerzusammensetzung und in einer Blüte, wo die Schlupfwespen den Nektar mit ihren kurzen Mundwerkzeugen auch erreichen können. In mehreren Doktorarbeiten wurde die optimale Pflanze gesucht, die die Ansprüche der Schlupfwespen abdeckt, gleichzeitig die Schädlinge nicht fördert, die Kohlpflanzen im Feld nicht konkurrenziert und sich in das Anbausystem integrieren lässt. Dank modernster wissenschaftlicher Methoden im Labor konnten verschiedene Pflanzenarten geprüft werden und eine optimale Begleitpflanze wurde gefunden: Die Kornblume. Anschliessende Feldversuche zeigten, dass Kornblumen als Beipflanzen im Weisskohlfeld kombiniert mit Blühstreifen am Feldrand gleich effizient sind, wie der Einsatz von Insektizid. Diese Forschungsresultate stimmen mich optimistisch und pessimistisch zugleich. Optimistisch, weil uns die Natur vielfältige Lösungen für unsere Probleme anbietet, pessimistisch, weil wir diese Lösungen oftmals nicht sehen: Bis vor ein paar Jahrzehnten waren Kornblumen überall auf Feldern zu finden, bis wir sie zum Unkraut erklärt und mit Herbizid bekämpft haben, weil sie uns unnütz und wertlos erschienen.
Ein weiteres Projekt am FiBL ist die pestizidfreie Apfelanlage. In einer ein Hektar grossen Modellanlage haben wir 2006 alle erdenklichen Massnahmen zur Systemstabilisierung kombiniert: Resistente Sorten in alternierenden Reihen, weiterer Reihenabstand, angepasster Baumschnitt, Blühstreifen in den Fahrgassen, Untersaaten in den Baumstreifen, vielfältige Hecken und Buntbrachen um die Anlage, Nistkästen und Unterschlupfmöglichkeiten für nützliche Insekten, Vögel, Fledermäuse, Kleinsäuger. In sieben Versuchsjahren konnten wir zeigen, dass sich eine unglaubliche Vielfalt an Insekten etabliert und dass die Schädlinge in einer solchen Anlage meist von den Nützlingen gut reguliert werden und auf Insektizide verzichtet werden kann. Gesehen haben wir aber auch die Hindernisse: durch den Verzicht an Fungiziden kam es zu Regenflecken (schwärzliche, unschön aussehende Beläge auf der Fruchtoberfläche) und zum Durchbruch der Schorfresistenz. Der Einsatz von Fungiziden, wie z.B. Schwefel und Tonerde, ist also nach wie vor nötig, zumindest solange Kunden auf Äpfel mit einem perfekten Aussehen bestehen.

Einsatz von lebenden Biocontrol-Organismen

Als direkte Bekämfungsmassnahme können als vorletzte Stufe der Pyramide Biocontrol- Organismen eingesetzt werden. Mit Biocontrol ist der Einsatz bzw. die Massenfreilassung von lebenden Organismen, wie Marienkäfern oder aber auch Krankheitserregern von Insekten, gemeint. Biocontrol-Organismen haben den Vorteil, dass sie häufig sehr spezifisch wirken. Daher kann man Biocontrol-Organismen häufig gut in ein System integrieren. Dennoch zögern viele Produzenten, Insektizide durch Biocontrol-Organsimen zu ersetzen. Das hat verschiedene Gründe: einerseits ist mehr Wissen nötig, die Organismen brauchen bestimmte Klimabedingungen, sind nicht mit synthetischen Insektiziden kombinierbar, sie sind häufig nicht sehr gut lagerbar, nicht patentierbar (was diesen Ansatz uninteressant für die grossen Pflanzenschutzfirmen macht), und vor allem aber sind sie teurer als die meisten Insektizide. Lösungen wären also vorhanden, ein starker Anreiz, diese Lösungen auch umzusetzen, fehlt jedoch.

Biopestizide – nur für den Notfall

Die letzte Stufe der Pyramide – der Einsatz von Bio-Insektiziden – sollte wirklich auf existenzbedrohliche Notfälle beschränkt bleiben. Bei neuen invasiven Schädlingen, oder bei extremen Witterungsbedingungen kann es durchaus zu Massenvermehrungen von Schädlingen kommen, für die es keine andere Lösung gibt. Da aber auch biologische Pestizide – meist handelt es sich dabei um Pflanzenextrakte, Mineralien oder Extrakte aus Bodenpilzen – Nebenwirkungen haben können, sollten sie so sparsam wie möglich eingesetzt werden. Der Ersatz synthetischer Pestizide durch Bio-Pestizide führt nicht zwangsläufig zu einem nachhaltigeren Pflanzenschutz.

Wie weiter?

Nachhaltiger Pflanzenschutz ist nur möglich, wenn man verstärkt die unteren Bereiche der hier vorgestellten Pyramide berücksichtigt. Dazu braucht es gut ausgebildete Landwirte, die ihre Felder und die lokalen Gegebenheiten gut kennen und genug Zeit haben, die ökologischen Zusammenhänge zu beobachten und ihr Anbausystem entsprechend auszurichten. Es wäre auch gut und sinnvoll, wenn Landwirte gemeinsam mit ihren Nachbarn regionale Strategien zur Schädlingsprävention entwickeln, denn Schädlingsprobleme enden meist nicht am eigenen Gartenzaun. All das ist für die Landwirte deutlich aufwändiger und teurer als der Einsatz der Pestizidspritze. Da von einer Umstellung primär die Gesellschaft – durch saubereres Trinkwasser, intaktere Ökosysteme, gesündere Lebensmittel – profitiert, muss die Gesellschaft den Bauern stärkere Anreize bieten, ihre Landwirtschaft auf nachhaltige Methoden umzustellen.
Schlussendlich braucht es mehr Forschung, um ökologische Zusammenhänge noch besser zu verstehen. Und es braucht einen wirklich smarten Technikeinsatz: mit der heutigen Rechenleistung, können Klimamodelle modelliert werden, Früherkennung und Diagnose von Krankheiten und Schädlingen automatisiert werden. Wir sind theoretisch in der Lage, jeder einzelnen Pflanze im Feld einen GPS-Punkt zuzuteilen. Mit smarter Technik könnte man hochkomplexe, ökologisch wertvolle Agroforstsysteme effizient bewirtschaften. Wirklich smart wäre es, neue Technologien und neue Anbausysteme gemeinsam zu entwickeln.

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